Sie schwieg nachdenklich, dann fügte sie hinzu:
»Glaubst du, wir könnten – glaubst du, wir dürften ihnen mit einem Mythos helfen? Mit der Geschichte einer Welt, die von wunderbarer Klugheit war, aber dabei so böse, daß sie zerstört werden mußte – oder durch einen Zufall sich selbst zerstörte? So etwas wie eine neue Sintflut. Das würde sie nicht mit einem Minderwertigkeitsgefühl belasten – es könnte ihnen den Impuls geben, etwas Neues aufzubauen, und diesmal etwas Besseres.«
»Ja ...«, sagte ich und überlegte. »Ja. Es ist oft gut, den Kindern die Wahrheit zu sagen. Sie finden sich später leichter zurecht – nur: warum behaupten, es sei ein Mythos?«
Damit war Josella nicht einverstanden.
»Wie meinst du das? Bei den Triffids läßt sich von Schuld oder Irrtum reden – das sehe ich ein. Aber das übrige ...?«
»Ich glaube nicht, daß man bei den Triffids viel von Schuld reden kann. Die Extrakte, die sie liefern, kamen uns damals sehr zustatten. Niemand vermag die Folgen vorauszusehen, die eine große Entdeckung nach sich ziehen kann – ob sich's um eine neuartige Maschine handelt oder um eine Triffid, und unter normalen Umständen waren wir ihnen durchaus gewachsen. Wir profitierten eine ganze Menge von ihnen, solange diese Umstände für uns günstig waren.«
»Daß sich die Umstände änderten, war nicht unsere Schuld. Es war eine Naturkatastrophe wie ein Erdbeben oder ein Orkan, etwas, das eine Versicherungsgesellschaft ›höhere Macht‹ nennen würde. Eine Heimsuchung eben. Wir waren doch sicher nicht schuld, daß der Komet gekommen ist.«
»Nicht, Josella? Bist du dessen ganz sicher?«
Sie wandte sich um und sah mich an.
»Was meinst du, Bill? Wie hätten wir daran schuld sein können?«
»Was ich meine, Liebes, ist – war es überhaupt ein Komet? Sieh einmal, die abergläubische Furcht vor Kometen hat tiefe Wurzeln. Ich weiß, als moderne Menschen haben wir uns nicht auf den Straßen niedergekniet und gebetet – dennoch sitzt der jahrhundertealte Schrecken in unserm Blut. Sie waren immer die Bilder und Zeichen des himmlischen Zorns, Warnungen vor dem nahen Ende, und als solche in einer Unzahl von Geschichten und Prophezeiungen zu finden. Was liegt näher, als bei einer erstaunlichen Himmelserscheinung sogleich an einen Kometen zu denken? Eine Berichtigung braucht Zeit – und die fehlte ja gerade. Und wenn dann noch ein unausdenkbares Unheil folgt, muß es natürlich ein Komet gewesen sein.«
Josella sah mich prüfend an.
»Bill, willst du damit sagen, daß es, deiner Meinung nach, kein Komet war?«
»Genau das«, bestätigte ich.
»Aber – das verstehe ich nicht. Was soll es denn sonst gewesen sein?«
Ich öffnete eine luftdicht verschlossene Dose Zigaretten und zündete je eine für uns beide an.
»Du erinnerst dich, was Michael Beadley sagte von dem über den Abgrund gespannten Seil, auf dem wir alle seit Jahren dahinwanderten?«
»Ja, aber –«
»Nun, ich meine, wir haben den falschen Schritt getan – und nur ein paar von uns haben Glück gehabt und den Sturz überlebt.«
Ich zog an meiner Zigarette, während ich hinausschaute auf das Meer und auf den unendlichen blauen Himmel darüber.
»Da oben«, fuhr ich fort, »da oben kreisten – und kreisen vielleicht noch immer – Satelliten mit Geheimwaffen. Kreisten Drohungen, die auf ihren Tag warteten. Wie viele? Was war ihre Ladung? Du weißt es nicht; ich weiß es nicht. Geheimwaffen. Alles, was wir darüber gehört haben, sind nur Mutmaßungen – spaltbares Material, radioaktiver Staub, Bakterien, Viren. Nimm an, eine Type war konstruiert, um Strahlen auszusenden, die unsere Augen nicht ertragen konnten – etwas, das den Sehnerv tötete, oder zumindest lähmte ...?«
Josella umklammerte meine Hand.
»Oh, Bill, nicht! Das ist nicht möglich ... Das wäre ja diabolisch. Das kann ich nicht glauben ... Nein, nein, Bill!«
»Liebste, alles da oben war diabolisch ... Und dann löst ein Irrtum oder ein Zufall bei einigen von den Dingern die Explosion aus – vielleicht tatsächlich die Begegnung mit den Meteoritenschwärmen ...
Und dann fängt einer an, von Kometen zu reden.
Wäre unklug gewesen, das sofort zu dementieren – und überdies war dazu ja auch keine Zeit mehr.
Natürlich war bei den Dingern an eine bodennahe Auslösung gedacht und an eine örtlich begrenzte Wirkung. Nun aber entladen sie sich im Weltraum oder beim Eintritt in die Atmosphäre – auf jeden Fall in solcher Höhe, daß die Gesamtbevölkerung der Erde ihrer Strahlung ausgesetzt ist ...
Was wirklich geschehen ist, läßt sich jetzt nur mehr mutmaßen. Aber daß wir dieses Unheil selber über uns gebracht haben, das steht für mich fest. Und auch diese Seuche nachher: du weißt, Typhus war es nicht ...
Daß es nach all den Jahrtausenden gerade ein paar Jahre nach der Einsetzung der Satellitengeheimwaf-fen zu einem Zusammenstoß mit einem Kometen gekommen sein soll, an einen solchen Zufall glaube ich nicht. Glaubst du so etwas? Nein, wir haben auf dem Seil, alles in allem genommen, eine gute Weile balanciert – aber einmal mußten wir das Gleichgewicht verlieren.«
»Ja, wenn du meinst, daß es so war –«, murmelte Josella. Sie verstummte und blieb eine Zeitlang in Schweigen versunken. Dann sagte sie:
»In mancher Hinsicht könnte es einem auf die Art sogar noch grauenhafter vorkommen, als wenn es eine blinde Naturkatastrophe gewesen wäre. Und doch auch wieder nicht. Es macht die Dinge verständlich und dadurch weniger hoffnungslos. War es so, läßt es sich künftig verhindern – einer der Fehler, die unsere Ururenkel vermeiden müssen. Und, ach du lieber Himmel, wie viele Fehler sind gemacht worden! Aber wir können sie davor warnen.«
»Hm – können wir –«, sagte ich. »Wenn sie einmal mit den Triffids aufgeräumt haben und aus dieser Klemme heraus sind, können sie eine ganze Menge eigener, funkelnagelneuer Fehler begehen.«
»Die armen Kleinen«, sagte sie, als sähe sie die wachsende Schar der Ururenkel bereits leibhaftig vor sich, »wir können ihnen nicht viel bieten, was?«
»Früher hat man gesagt: Wie man sich bettet, so liegt man.«
»Das, mein lieber Bill, ist, abgesehen von einem sehr engen Geltungsbereich, glatter ... ich will nicht unhöflich sein. Mein Onkel Ted, glaube ich, pflegte diese Redewendung zu gebrauchen – bis ihn eine Bombe um beide Beine brachte. Dann nicht mehr.
Nichts von dem, was ich getan habe, hat irgendwie dazu beigetragen, daß ich jetzt noch lebe.« Sie warf den Rest ihrer Zigarette fort. »Bill, was haben wir wirklich getan, um dieses Glück zu verdienen? Immer wieder – das heißt, wenn ich nicht überarbeitet und selbstsüchtig bin – sage ich mir, welches Glück wir hatten, und möchte irgendwie meinen Dank abstatten. Aber dann habe ich wieder das Gefühl, wenn irgendwer oder irgendwas da wäre, wo man sich bedanken könnte, hätten sie eine Würdigere gewählt. Da kennt sich unsereins nicht aus.«
»Und ich habe das Gefühl«, sagte ich, »säße irgendwer oder irgendwas am Lenkrad der Weltgeschichte, hätte eine Menge Dinge nicht passieren können. Aber darüber lasse ich mir keine grauen Haare wachsen. Wir haben eben Glück gehabt, Liebste. Verläßt's uns: nun, die Zeit, die wir gemeinsam erlebt haben, kann uns niemand nehmen. Das war mehr, als ich verdient habe und mehr, als man in einem Menschenleben eigentlich erwarten darf.«
Wir blieben noch eine Weile sitzen und schauten hinaus auf die leere See; dann fuhren wir hinunter in die kleine Stadt. Nachdem wir alles, was auf unserer Wunschliste stand, aufgetrieben hatten, hielten wir am Strand unten ein Picknick im Sonnenschein – einen breiten Streifen Kiesel hinter uns, den keine Triffid ungehört überschreiten konnte.