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Während ich Siesta hielt, vor mir einen Brandy und in der Hand eine Zigarette, rang ich mich endlich zu der Erkenntnis durch, daß das bisher Gesehene Wirklichkeit war, endgültige, unwiderrufliche Wirklichkeit. Ich sah, daß mein Dasein nun ohne jeden Schwerpunkt war. Alle meine Pläne, alle Ziele und Aussichten waren ausgelöscht, verschwunden mit der Welt, die ihnen Sinn gegeben hatte. Es war ein Augenblick der Verlassenheit und Vereinsamung, der vielleicht lebensbedrohend gewesen wäre, hätte ich den Verlust von Verwandten oder sonst Nahestehen-den betrauern müssen. Das zuzeiten recht leere Leben, das ich führte, erwies sich nun als ein Segen.

Niemand erwartete etwas von mir. Und seltsam, was ich fühlte, war nicht, was ich hätte fühlen müssen, Verlassenheit und Vereinsamung, sondern beinahe so etwas wie – Befreiung ...

Von nun an war ich mein eigener Herr, nicht mehr nur ein Rädchen im Getriebe. Es mochte eine Welt voller Schrecken und Gefahren sein, die ich vor mir hatte, aber ich konnte es mit ihr aufnehmen auf meine Art und nicht mehr im Dienst fremder Kräfte und Interessen, von denen ich nichts verstand und die mich nichts angingen.

Blieb noch die Frage: was sollte zuerst geschehen, wie und wo sollte mit diesem neuen Leben begonnen werden. Diese Sorge beschwerte mich im Augenblick nicht sonderlich. Ich trank aus und ging wieder ins Freie, um mich in dieser neuen, fremden Welt ein wenig umzusehen.

Die ersten Schatten

Die Stadtteile, die ich nun durchschritt, waren zweifellos die belebtesten auf meiner bisherigen Wanderung. Ständig kam es auf den Gehsteigen und in den schmalen Gassen zu Zusammenstößen, und auch die Ansammlungen vor den nun immer häufiger eingeschlagenen Schaufenstern erhöhten die Verwirrung.

Dabei schien niemand unter den sich Drängenden recht zu wissen, was für eine Art Laden er vor sich hatte. Die Vordersten suchten einen erkennbaren Gegenstand zu ertasten, die Verwegeneren drangen, ungeachtet der lebensgefährlich aufzackenden Scheibensplitter, ins Innere der Läden.

Ich fühlte mich verpflichtet, den Leuten bei ihrer Suche nach Lebensmitteln zu helfen. Sollte ich es wirklich? Führte ich sie zu einem noch ungeplünderten Laden, würden sie ihn innerhalb von fünf Minuten kahl machen und ein paar Schwächere in dem Gedränge niedertreten. Die Vorräte würden ohnedies bald erschöpft sein. Was dann? Wohin mit all den Hungernden? Vielleicht ließ sich eine kleine ausgewählte Gruppe eine Zeitlang durchbringen; aber nach welchen Gesichtspunkten sollte ausgewählt werden?

Soviel ich sann und grübelte, ich fand keinen gangbaren Weg.

Es war ein Geschehen ohne Gnade und Erbarmen.

Es hieß: rauben oder beraubt werden.

Ich näherte mich dem Golden Square und wollte eben um eine Ecke, da stockte ich, ein schriller Aufschrei erscholl.

Und da gellte er auch schon von neuem auf.

Angstvoll und in ein Stöhnen ausklingend. Diesmal hörte ich, aus welcher Richtung er kam. Ein paar Schritte brachten mich zur Einmündung eines Gäßchens.

Etwas weiter drinnen in dem Gäßchen entdeckte ich die Ursache. Auf dem Boden kauerte ein Mädchen, auf das ein stämmiger Mann mit einer dünnen Messingstange einschlug. Das Kleid der Geschlagenen war am Rücken aufgerissen, die Haut mit roten Striemen bedeckt, ihre Hände waren auf den Rücken gebunden und mit einem Strick an das linke Handgelenk des Mannes gefesselt.

Ich konnte gerade einen neuen Hieb abfangen. Es war leicht, dem Überraschten die Stange zu entwinden und sie auf seine Schulter niedersausen zu lassen.

Ehe er sein Gleichgewicht wieder erlangte, hatte ich den Strick, der die beiden verband, durchgeschnitten.

Ein leichter Stoß vor die Brust, und er taumelte zurück und verlor dabei die Orientierung. Als er daher zu einem gewaltigen Hieb ausholte, traf er nicht mich, sondern die Ziegelmauer. Ich half dem Mädchen auf, knüpfte die Fesseln los und führte sie, während er noch immer fluchte und schimpfte, aus dem Gäßchen.

Als wir in die Straße einbogen, erwachte sie aus ihrer Erstarrung. Sie wandte mir ein verschmiertes und verweintes Gesicht zu und blickte mich an.

»Sie sehen ja!« rief sie ungläubig.

»Gewiß«, bestätigte ich.

»Oh, Gott sei Dank! Gott sei Dank! Ich glaubte schon, ich sei die einzige«, sie brach wieder in Tränen aus.

Ich musterte die Gegend. Ein Stück weiter fand sich ein kleineres, noch heil gebliebenes Gasthaus. Ein kräftiger Stoß mit der Schulter sprengte die Tür in den Schankraum auf. Ich führte meine Begleiterin zu einem Sessel. Einen zweiten zertrümmerte ich, um mittels der Stuhlbeine die Türe vor weiteren Besu-chern zu sichern. Dann erst wandte ich meine Aufmerksamkeit den Stärkungsmitteln im Schankregal zu.

Ich ließ ihr Zeit, sich zu beruhigen.

Dann und wann warf ich einen verstohlenen Blick auf das Mädel. Die Kleider, oder was davon übrig war, schienen von guter Qualität. Das Haar war dunkelblond. Das jetzt noch entstellte, verweinte und beschmutzte Gesicht mochte hübsch sein. Sie war etwas kleiner als ich, schlank, doch nicht mager. Wohlge-formte Hände, gepflegte Fingernägel, alles mehr dekorativ als praktisch.

Nachdem sie das erste Glas, das ich ihr gereicht hatte, geleert hatte, begann sie:

»Lieber Gott, ich muß furchtbar aussehen.«

Sie stand auf und trat vor einen Wandspiegel.

»Richtig furchtbar«, stellte sie fest.

»Zigarette?« fragte ich und schob ihr ein zweites Glas hin.

Sie erholte sich zusehends, und wir tauschten inzwischen die Geschichten unserer Erlebnisse aus. Um ihr Zeit zu geben, erzählte ich als erster. Dann begann sie:

»Ich schäme mich ganz furchtbar. Ich bin nämlich gar nicht so, ich meine, nicht so, wie Sie mich gefunden haben. Ich kann mich sonst auf mich verlassen.

Aber es war einfach zuviel, und mir gingen die Nerven durch. Ich glaubte, ich sei die einzige auf der ganzen Welt, die noch sehen konnte. Der Schreck warf mich um.«

»Machen Sie sich nichts daraus«, tröstete ich sie.

»Wir werden bald noch ganz andere Überraschungen an uns erleben.«

»Ich mache mir aber etwas daraus. Wenn man gleich anfangs so versagt –«, sie ließ den Satz unvollendet.

»Ich war auch einer Panik ziemlich nahe«, sagte ich. »Wir sind eben Menschen und nicht Maschinen.«

Sie hieß Josella Playton. Der Name kam mir irgendwie bekannt vor, ich wußte aber nicht, woher.

Sie wohnte in der Dene Road, St. John's Wood. Ich kannte die Dene Road. Komfortable Häuser, häßlich zumeist, innen kostspielig. Auch sie verdankte ihr Augenlicht dem Zufall. Montag abends war sie auf einer Party gewesen.

»Irgendein Spaßvogel, der so etwas für lustig hält, muß unsere Drinks verstärkt haben«, erklärte sie.

»Mir war nie so übel wie diesmal am Ende der Party.

Und ich hatte wirklich nicht viel getrunken.«

Dienstag, erinnerte sie sich, war ihr hundeelend zumute. Um vier Uhr nachmittags hatte sie es endgültig satt. Sie klingelte und gab Anweisung, sie wolle nicht gestört werden, auch wenn die Welt untergehen und der Jüngste Tag anbrechen sollte. Nach diesem Ultimatum nahm sie ein starkes Schlafmittel, das auf den leeren Magen wie ein Keulenschlag wirkte.

Sie lag ausgelöscht da und wußte von nichts, bis sie heute früh von ihrem Vater geweckt wurde, der in ihr Zimmer stolperte.

»Josella«, sagte er, »suche um Gottes willen Doktor Mayle zu erreichen. Sage ihm, daß ich blind bin, stockblind.«

Hastig kleidete sie sich an. Kein Klingeln brachte das Dienstpersonal herbei. Zu ihrem Entsetzen fand sie, daß alle blind waren.

Auch das Telefon war gestört, es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich selbst ins Auto zu setzen, um den Arzt zu holen. Die lautlosen Straßen und die vollkommene Verkehrsstille hatten sie befremdet, erst nachdem sie fast eine Meile gefahren war, dämmerte ihr auf, was sich ereignet hatte. Im ersten Schreck wollte sie sogleich umkehren, dann besann sie sich, niemandem wäre damit geholfen gewesen. Vielleicht war der Arzt, ebenso wie sie selber, von dieser Krankheit oder was es war, verschont geblieben. Mit verzweifelter, aber schon sinkender Hoffnung hatte sie die Fahrt fortgesetzt.