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Tirian gab Jutta einen Bogen und einen Köcher voller Pfeile. Zunächst aber mußten sie ein Feuer anzünden. Im Innern des Turmes fühlte man sich mehr in einem Käfig als in einem Wohnraum, und es konnte einen ganz schön frösteln. Aber beim Holzsammeln wurde ihnen warm – die Sonne stand zu dieser Zeit am höchsten –, und als dann die Flamme im Kamin loderte, sah der Ort ganz freundlich aus.

Das Mittagessen war etwas stumpfsinnig, denn von dem harten Zwieback aus einem Schrank konnten sie nur Stücke zerstampfen und sie als Brei mit Salz in Wasser kochen. Zu trinken gab es nichts anderes als reines Wasser.

»Hätten wir doch ein Päckchen Tee mitgebracht«, sagte Jutta.

»Oder eine Büchse Kakao«, meinte Eugen.

»Ein Fäßchen mit gutem Wein in jedem Turm wäre auch nicht verkehrt gewesen«, überlegte Tirian.

6. Jutta als Pfadfinderin

Etwa vier Stunden später legte sich Tirian in eines der Betten, um ein bißchen zu schlafen. Die beiden Kinder schnarchten schon. Tirian hatte sie früher zu Bett geschickt, damit sie in der Nacht wach bleiben konnten. In ihrem Alter brauchten sie eben viel Schlaf.

Tirian hatte sie auch schön müde gemacht. Zuerst hatte er Jutta das Bogenschießen gezeigt, und dann hatte er sie fleißig üben lassen. Das Höchstmaß der Narnianen erreichte sie zwar nicht, aber ihre Leistungen waren doch recht gut. Es war ihr gelungen, ein Kaninchen zu schießen. Kein sprechendes Kaninchen natürlich; von der gewöhnlichen Art gibt es in West-Narnia eine ganze Menge. Dieses erlegte Kaninchen war inzwischen gehäutet, ausgeweidet und aufgehängt worden. Tirian hatte bemerkt, daß die beiden Kinder über diese schmutzige und übelriechende Arbeit gut Bescheid wußten. Sie hatten sie gründlich kennengelernt auf ihrer großen Reise durch das Land der Riesen zur Zeit des Prinzen Kilian.

Dann hatte Tirian versucht, Eugen beizubringen, wie er mit Schwert und Schild umgehen mußte. Bei seinen früheren Abenteuern hatte Eugen das Fechten mit dem Schwert gelernt, aber nur mit einem geraden narnianischen Schwert. Mit einem kalormenischen Krummschwert hatte er noch nie gefochten. Das behinderte die Übungen, denn viele Schwertstreiche sind ganz verschieden. Einige Techniken, die Eugen beim Gebrauch des langen narnianischen Schwertes erlernt hatte, mußte er sich jetzt sogar wieder abgewöhnen. Tirian fand, daß Eugen ein gutes Auge hatte und schnell auf den Füßen war. Er war erstaunt über die Kraft der beiden Kinder; sie schienen viel stärker, größer und erwachsener zu sein als ein paar Stunden früher bei ihrer Ankunft in Narnia. So wirkt eben die Luft dieses Wunderlandes auf Besucher unserer Welt.

Alle drei stimmten überein, daß sie zuerst zum Stallberg zurückgehen mußten, um das Einhorn zu retten. Bei Erfolg wollten sie später nach Osten ziehen und das kleine Heer treffen, das Runwitt der Zentaur von Otterfluh holen sollte.

Ein erfahrener Krieger und Jäger wie Tirian kann immer zu der Zeit aufwachen, wann er es will. So ließ er sich bis neun Uhr abends Zeit, dann aber schlug er sich alle Sorgen aus dem Kopf und schlief sofort ein. Als er aufwachte, meinte er, es sei nur einen Augenblick später. Doch am Licht und dem richtigen Gefühl für alle Dinge erkannte er, daß er seine Schlafenszeit genau eingehalten hatte. Tirian erhob sich, setzte seinen Helmturban auf (er hatte im Panzerhemd geschlafen) und rüttelte dann Jutta und Eugen, bis sie sich rührten. Als sie aus dem Bett kletterten, sahen sie grau und elend aus, und sie gähnten gewaltig.

»Jetzt«, sagte Tirian, »gehen wir von hier aus genau nach Norden. Wenn wir Glück haben, gibt es eine sternklare Nacht, dann wird unsere Reise kürzer sein als die heute morgen. Da machten wir nämlich einen Umweg, aber jetzt gehen wir geradeaus. Ruft uns jemand an, so seid ihr beide still. Ich werde mir Mühe geben und so sprechen wie ein hochnäsiger kalormenischer Graf. Wenn ich mein Schwert zücke, Eugen, dann mußt du es ebenso machen. Jutta hinter uns soll mit einem Pfeil an der Sehne bereitstehen. Aber wenn ich rufe ›zurück!‹, dann flieht ihr beide zum Turm. Wenn ich den Befehl zum Rückzug gegeben habe, darf keiner mehr weiterkämpfen, kein Hieb oder Stoß mehr! Falsche Tapferkeit hat im Kriege die besten Pläne verdorben. Nun vorwärts, Freunde, im Namen Aslans!«

Hinaus ging es in die kalte Nacht. Die großen nördlichen Sterne leuchteten über den Wipfeln der Bäume. Der Nordstern jener Welt, die ›Lanzenspitze‹, ist heller als unser Polarstern.

Eine Zeitlang konnten sie gerade auf die ›Lanzenspitze‹ zugehen. Aber bald bogen sie von ihrem Weg ab und ließen ein dichtes Gebüsch links liegen. Auf dem waldigen Weg hatten sie Mühe, die alte Richtung wieder aufzunehmen. Aber Jutta fand sich zurecht, denn sie war eine tüchtige Pfadfinderin gewesen. Natürlich kannte sie auch die Sterne von Narnia genau, weil sie damals viel in die nördlichen Länder gereist war. Sie konnte die Richtung sogar durch andere Sterne ermitteln, wenn die ›Lanzenspitze‹ verborgen war. Als Tirian erkannte, was für eine gute Pfadfinderin Jutta war, schickte er sie voraus. Er war erstaunt, wie leise und fast unsichtbar sie ihnen den Weg bahnte.

»Bei der Mähne des Löwen!« flüsterte er Eugen zu. »Jutta ist ein wunderbares Waldmädchen. Eine echte Baumnymphe könnte es kaum besser machen.«

»Sie ist so klein, das hilft«, wisperte Eugen. Aber Jutta flüsterte zurück: »Pst, leiser!«

Der Wald um sie herum war still, fast zu ruhig. In einer gewöhnlichen Nacht in Narnia müssen Geräusche zu hören sein: gelegentlich das heitere ›Gute Nacht‹ eines Igels, der Schrei einer Eule von oben, vielleicht eine Flöte von fern, die vom Tanz der Faune erzählt, oder das unterirdische Klopfen und Hämmern von Zwergen. Das alles aber war verstummt; Schwermut und Furcht lagen über Narnia.

Nach einiger Zeit stieg der Weg steil an, und die Bäume standen weit auseinander. Tirian konnte undeutlich den wohlbekannten Berggipfel und den Stall erkennen. Jutta ging nur mit größter Vorsicht weiter. Mit der Hand gab sie den andern Zeichen, sie sollten dasselbe tun. Dann stand sie totenstill, und Tirian sah sie allmählich ins Gras sinken und ohne einen Laut verschwinden.

Etwas später erhob sie sich wieder, legte ihren Mund dicht an Tirians Ohr und sagte so leise wie möglich: »Legt euch hin, dann könnt ihr gut ssehen.« Sie sagte ssehen mit zwei s am Anfang statt sehen, nicht, weil sie mit der Zunge anstieß, sondern weil sie wußte, daß der zischende Buchstabe S Teil eines Flüsterns ist, das man gerade noch hören kann. Tirian legte sich sofort nieder, nicht ganz so leise wie Jutta, denn er war älter und schwerer.

Sobald sie im Gras lagen, sah Tirian, wie von dieser Stelle aus die Kante des Berges sich scharf vom sternbesäten Himmel abhob. Zwei schwarze Formen waren deutlich zu erkennen: die eine war der Stall, und etwas abseits, einen halben Meter davor, sahen sie eine kalormenische Schildwache. Aber es war eine schlechte Wache: Der Posten stand nicht da, er ging auch nicht auf und ab, sondern saß mit seinem Speer über der Schulter und mit dem Kinn auf der Brust.

»Gut gemacht«, sagte Tirian zu Jutta. Sie hatte ihm genau das gezeigt, was er sehen wollte.

Sie standen auf, und nun übernahm Tirian die Führung. Sie wagten kaum zu atmen und setzten langsam ihren Weg fort bis zu einer kleinen Baumgruppe, etwas von dem Wachtposten entfernt.

»Wartet hier, bis ich wiederkomme«, flüsterte Tirian den beiden zu. »Wenn es mir mißlingt, dann müßt ihr fliehen.«

Er ging kühn auf den feindlichen Wachtposten zu. Der Mann stutzte, als er Tirian sah, und wollte gerade seine Füße heben. Er fürchtete, Tirian könne einer seiner eigenen Offiziere sein, so daß er Unannehmlichkeiten bekommen könnte, weil er auf der Erde saß. Aber ehe er sich noch hochrappeln konnte, war Tirian schon auf ein Knie neben ihn gefallen und sagte:

»Bist du ein Krieger Tisroks? Es beglückt mein Herz, unter all diesen Bösewichtern von Narnianen dich zu treffen. Gib mir deine Hand, mein Freund!«

Bevor der kalormenische Wachtposten noch richtig wußte, was ihm geschah, wurde seine rechte Hand mit mächtigem Griff gepackt. Im nächsten Augenblick kniete schon jemand auf seinen Beinen, und ein Dolch wurde gegen seinen Hals gedrückt.