»Ja«, sagte Fuchur noch leiser,»das ist wahr.«
Schweigend flogen sie weiter, immer auf den Elfenbeinturm zu.
Nach einer Weile begann der Drache von neuem:
»Hast du sie je gesehen, Atréju?«
»Wen?«
»Die Kindliche Kaiserin - oder vielmehr die Goldäugige Gebieterin der Wünsche. Denn so mußt du sie anreden, wenn du vor ihr stehst.«
»Nein, ich habe sie nie gesehen.«
»Ich schon. Es ist sehr lange her. Dein Urgroßvater muß damals ein kleines Kind gewesen sein. Auch ich war noch ein junger Spring-in-die-Wolken, der nichts als Unsinn im Kopf hatte. Eines Nachts hatte ich versucht, mir den Mond vom Himmel zu holen, der groß und rund dort oben leuchtete. Wie gesagt, ich hatte noch von nichts eine Ahnung. Als ich mich schließlich enttäuscht zur Erde zurückfallen ließ, kam ich dem Elfenbeinturm ganz nahe. Der Magnolienpavillon hatte in dieser Nacht seine Blütenblätter weit geöffnet, und in deren Mitte sah ich die Kindliche Kaiserin sitzen. Sie warf mir einen Blick zu, nur einen einzigen kurzen Blick, aber - ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll - von dieser Nacht an bin ich ein anderer geworden.«
»Wie sieht sie aus?«
»Wie ein kleines Mädchen. Aber sie ist viel älter als die ältesten Wesen Phantásiens. Besser sollte ich sagen: Sie ist ohne Alter.«
»Aber sie ist sterbenskrank«, meinte Atréju,»soll ich sie behutsam auf das Ende aller Hoffnung vorbereiten?«
Fuchur schüttelte den Kopf.
»Nein, sie würde jeden Versuch der Beschwichtigung sofort durehr schauen. Du mußt ihr die Wahrheit sagen.«
»Auch wenn sie daran stirbt?« fragte Atréju.
»Ich glaube nicht, daß es so kommt«, sagte Fuchur.
»Ich weiß«, antwortete Atréju,»du bist ein Glücksdrache.«
Und dann flogen sie wieder lange Zeit schweigend weiter.
Schließlich redeten sie noch ein drittes Mal miteinander. Diesmal War es Atréju, der die Stille unterbrach:
»Noch etwas möchte ich dich fragen, Fuchur.«
»Frage!«
»Wer ist sie?«
»Wie meinst du das?«
»AURYN hat Macht über alle Wesen Phantásiens, gleich ob sie Geschöpfe des Lichts oder der Finsternis sind. Es hat auch Macht über dich und mich. Und doch übt die Kindliche Kaiserin niemals Macht aus. Es ist, als wäre sie nicht da, und doch ist sie in allem. Ist sie wie wir?«
»Nein«, sagte Fuchur,»sie ist nicht, was wir sind. Sie ist kein Geschöpf Phantásiens. Wir alle sind da durch ihr Dasein. Aber sie ist von anderer Art.«
»Ist sie dann -«, Atréju zögerte, seine Frage auszusprechen,»ist sie so etwas wie ein Menschenkind?«
»Nein«, sagte Fuchur,»sie ist nicht, was die Menschenkinder sind.«
»Also«, wiederholte Atréju,»wer ist sie?«
Erst nach einer langen Stille antwortete Fuchur:
»Niemand in Phantásien weiß es, niemand kann es wissen. Es ist das tiefste Geheimnis unserer Welt. Ich habe einmal einen Weisen sagen hören, wer es ganz verstehen könne, der würde damit sein eigenes Dasein auslöschen. Ich weiß nicht, was er gemeint haben mag. Mehr kann ich dir nicht sagen.«
»Und nun«, sagte Atréju,»wird ihr und unser aller Dasein auslöschen, ohne daß wir ihr Geheimnis verstanden haben.«
Diesmal schwieg Fuchur, aber um sein löwenartiges Maul spielte ein Lächeln, als wollte er sagen: Das wird nicht geschehen.
Von da an sprachen sie nicht mehr.
Kurze Zeit später überflogen sie den äußeren Rand des»Labyrinths«, jener Ebene aus Blumenbeeten, Hecken und verschlungenen Wegen, die den Elfenbeinturm in einem weiten Kreis umgab. Zu ihrem Schrecken mußten sie feststellen, daß auch hier das Nichts schon am Werk war. Zwar waren es vorerst nur kleinere Stellen, die das»Labyrinth« durchsetzten, aber sie waren allenthalben. Die farbenprächtigen Blumenbeete und blühenden Gebüsche, die zwischen diesen Stellen lagen, waren grau und dürr geworden. Die kleinen zierlichen Bäume streckten kahle, verkrümmte Äste zu dem Drachen und seinem Reiter empor, als wollten sie sie um Hilfe anflehen. Die ehemals grünen und bunten Wiesen waren jetzt fahl, und ein leiser Geruch von Moder und Fäulnis schlug zu den Ankömmlingen empor. Die einzigen Farben, die es noch gab, waren die von aufgequollenen Riesenpilzen und von giftig aussehenden, entarteten und grellbunten Blumengebilden, die eher wie die Ausgeburten des Wahnsinns und der Verderbtheit wirkten. Das letzte innerste Leben Phantásiens wehrte sich noch, zuckend und kraftlos, gegen die endgültige Vernichtung, die es von allen Seiten belagerte und zerfraß.
Aber noch schimmerte in feenhaftem Weiß, makellos und unberührt, in der Mitte der Elfenbeinturm.
Fuchur landete mit Atréju nicht auf jener unteren Terrasse, die für ankommende Flug-Boten vorgesehen war. Er fühlte, daß weder er noch Atréju die Kraft aufbringen würden, von dort aus die lange, spiralförmige Hauptstraße, die zur Spitze des Turms emporführte, hinaufzusteigen. Auch schien ihm, daß die ganze Situation es durchaus erlaubte, sich über alle Vorschriften und Etikettefragen hinwegzusetzen. Er entschloß sich zu einer Notlandung. Er brauste über die elfenbeinernen Erker, Brücken und Balustraden, fand im letzten Augenblick noch das am höchsten gelegene Stück der Hauptstraße, dort wo sie vor dem eigentlichen Palastbezirk endete, ließ sich fallen, rutschte die Straße aufwärts, wobei er sich einige Male um sich selbst drehte, und kam schließlich, mit dem Schweif voraus, zum Stehen.
Atréju, der sich mit beiden Armen an Fuchurs Hals festgehalten hatte, richtete sich auf und blickte sich nach allen Seiten um. Er hatte irgendeine Art von Empfang erwartet, oder wenigstens eine Schar von Palastwächtern, die ihn fragen würden, wer er sei und was er hier wolle - aber weit und breit war niemand zu sehen. Die strahlend weißen Gebäude ringsum schienen wie ausgestorben.
»Sie sind alle geflohen!« schoß es ihm durch den Kopf.»Sie haben die Kindliche Kaiserin allein gelassen. Oder ist sie schon…«
»Atréju«, flüsterte Fuchur,»du mußt ihr das Kleinod zurückgeben.«
Er streifte sich die goldene Kette vom Hals. Sie glitt zu Boden.
Atréju sprang von Fuchurs Rücken - und stürzte hin. Er hatte nicht mehr an seine Wunde gedacht. Liegend griff er nach dem Pantakel und legte es sich um. Dann richtete er sich mit Mühe auf, wobei er sich auf den Drachen stützte.
»Fuchur«, sagte er,»wohin muß ich gehen?«
Aber der Glücksdrache antwortete nicht mehr. Er lag da wie tot.
Die Hauptstraße endete an einer hohen, weißen Ringmauer vor einem wunderbar geschnitzten großen Tor, dessen Flügel offenstanden.
Atréju humpelte darauf zu, stützte sich am Portal und fand hinter dem Tor eine breite, weißglänzende Freitreppe, die ihm bis in den Himmel zu reichen schien. Er begann die Stufen hinaufzusteigen. Manchmal hielt er inne, um neue Kräfte zu sammeln. Auf der weißen Treppe blieb eine Spur von Blutstropfen zurück.
Endlich war er oben angelangt und sah vor sich eine lange Galerie. Er taumelte weiter und hielt sich an den Säulen fest. Dann kam er durch einen Hof voller Springbrunnen und anderen Wasserspielen, aber er konnte kaum noch unterscheiden, was er sah. Wie im Traum kämpfte er sich voran. Er fand ein zweites, kleineres Tor, danach mußte er eine sehr hohe, diesmal aber schmale Treppe erklimmen, gelangte in einen Garten, in dem alles, Bäume, Blumen und Tiere, aus Elfenbein geschnitzt war, kroch auf allen vieren über mehrere bogenförmige Brücken ohne Geländer, die zu einem dritten Tor führten, dem kleinsten von allen. Auf dem Bauch liegend zog er sich weiter, dann hob er langsam den Blick und sah einen spiegelblanken, elfenbeinernen Bergkegel und auf dessen Spitze den blendend weißen Magnolienpavillon. Kein Weg führte hinauf, keine Treppe.