Jetzt aber erhob sich mitten auf dieser Fläche überraschenderweise ein kleinerer Berg von eigentümlichem Aussehen. Er war ziemlich schmal und hoch, ähnlich wie der Elfenbeinturm, aber von leuchtendem Blau. Er bestand aus vielen bizarr geformten Zacken, die wie lauter riesenhafte umgekehrte Eiszapfen in den Himmel ragten. Etwa auf halber Höhe dieses Berges stand auf drei solchen Zackenspitzen ein Ei von der Größe eines Hauses.
Im Halbkreis um dieses Ei und dahinter ragten größere blaue Zapfen wie die Pfeifen einer gewaltigen Orgel in die Höhe und bildeten den eigentlichen Gipfel. Das große Ei hatte eine kreisrunde Öffnung, die wie eine Tür oder wie ein Fenster aussah. Und in dieser Öffnung erschien nun ein Gesicht, das der Sänfte entgegenblickte.
Als habe die Kindliche Kaiserin diesen Blick gespürt, schlug sie die Augen auf und erwiderte ihn.
»Halt!« sagte sie leise.
Die unsichtbaren Mächte blieben stehen.
Die Kindliche Kaiserin richtete sich auf.
»Er ist es«, fuhr sie fort.»Es muß sein, daß ich das letzte Stück des Weges allein zu ihm gehe. Wartet hier auf mich, was auch immer geschehen mag.«
Das Gesicht in der kreisrunden Öffnung des Eis war verschwunden.
Die Kindliche Kaiserin stieg aus der Sänfte und machte sich auf den Weg über die weite Schneefläche. Es war ein mühevoller Gang, denn sie war barfuß und der Schnee war harschig. Bei jedem Schritt brach sie durch die Eiskruste und der glasharte Schneeharsch zerschnitt ihre zarten Füße. Der eisige Wind zerrte an ihrem weißen Haar und Gewand.
Endlich hatte sie den blauen Berg erreicht und stand vor den glasglatten Zapfen.
Aus der kreisrunden, dunklen Öffnung des großen Eis schob sich eine lange Leiter hervor, viel, viel länger, als sie überhaupt in dem Ei Platz gehabt haben konnte. Schließlich reichte sie bis zum Fuß des blauen Berges hinunter, und als die Kindliche Kaiserin sie ergriff, sah sie, daß sie sich ganz und gar aus aneinanderhängenden Buchstaben zusammensetzte, und jede Sprosse war eine Zeile. Die Kindliche Kaiserin machte sich an den Aufstieg, und während sie Sprosse um Sprosse erklomm, las sie zugleich die Worte:
Sie hielt inne, um neue Kräfte zu sammeln, und blickte nach oben. Es ging noch sehr hoch hinauf. Bis jetzt hatte sie noch nicht einmal die Hälfte hinter sich gebracht.
»Alter vom Wandernden Berge«, sagte sie laut,»wenn du nicht willst, daß wir uns begegnen, dann hättest du mir diese Leiter nicht zu schreiben brauchen. Dein Verbot zu kommen ist es, das mich zu dir bringt.« Und sie stieg weiter.
Wieder mußte sie innehalten, um zu Atem zu kommen.
Sie war nun schon sehr hoch und die Leiter schwankte im Schneesturm wie ein Zweig. Die Kindliche Kaiserin klammerte sich an den eisigen Buchstaben-Sprossen fest und stieg auch noch das letzte Stück der Leiter empor.
Als die Kindliche Kaiserin diese letzten Sprossen hinter sich gebracht hatte, stieß sie einen leisen Seufzer aus und sah an sich hinunter. Ihr weites, weißes Gewand war zerfetzt, es war an all den Querstrichen, Häkchen und Dornen der Buchstabenleiter hängen geblieben. Nun, es war nichts Neues für sie, daß Buchstaben ihr nicht wohlgesinnt waren. Das beruhte auf Gegenseitigkeit.
Vor sich sah sie das Ei und die kreisrunde Öffnung, in welcher die Leiter endete. Sie stieg hindurch. Die Öffnung schloß sich augenblicklich hinter ihr. Ohne sich zu regen stand sie im Finstern und wartete, was geschehen würde.
Doch zunächst geschah lange Zeit nichts.
»Hier bin ich«, sagte sie schließlich leise in die Dunkelheit hinein. Ihre Stimme hallte wider wie in einem großen leeren Saal - oder war es eine andere, viel tiefere Stimme gewesen, die ihr mit den gleichen Worten geantwortet hatte?
Nach und nach konnte sie in der Finsternis einen schwachen, rötlichen Lichtschein sehen. Er strahlte von einem Buch aus, das aufgeschlagen in der Mitte des eiförmigen Raumes in der Luft schwebte. Es stand schräg, so daß sie den Einband sehen konnte. Es war in kupferfarbene Seide gebunden, und wie auf dem Kleinod, das die Kindliche Kaiserin um den Hals trug, waren auch auf diesem Buch zwei Schlangen zu sehen, die einander in den Schwanz bissen und ein Oval bildeten. Und in diesem Oval stand der Titeclass="underline"
Bastians Gedanken verwirrten sich. Das war doch genau das Buch, in dem er gerade las! Er schaute es noch einmal an. Ja, kein Zweifel, es war das Buch, das er in der Hand hatte, von dem da die Rede war. Aber wie konnte dieses Buch denn in sich selbst vorkommen?
Die Kindliche Kaiserin war nahe herangetreten und sah nun auf der anderen Seite des schwebenden Buches das Gesicht eines Mannes, das von unten her aus den aufgeschlagenen Seiten bläulich beleuchtet wurde. Dieser Schimmer ging von der Schrift im Buch aus, die blaugrün war.
Das Gesicht des Mannes sah aus wie die Rinde eines uralten Baumes, so durchpflügt war es von Furchen. Sein Bart war weiß und lang und seine Augen lagen so tief in dunklen Höhlen, daß sie nicht zu sehen waren. Er trug eine blaue Mönchskutte mit einer Kapuze über dem Kopf und hielt in der Hand einen Schreibstift, mit dem er in dem Buch schrieb. Er blickte nicht auf.
Die Kindliche Kaiserin stand lange Zeit schweigend und sah ihm zu. Es war kein eigentliches Schreiben, was er tat, vielmehr glitt sein Stift langsam über die leere Seite hin und die Buchstaben und Wörter bildeten sich wie von selbst, sie tauchten gleichsam aus der Leere auf.
Die Kindliche Kaiserin las, was da stand, und es war genau das, was in diesem Augenblick geschah, nämlich: »Die Kindliche Kaiserin las, was da stand…«
»Alles, was geschieht«, sagte sie, »schreibst du auf.«