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Bastian war schon viele Male von einem sechseckigen Raum in einen anderen getreten. Jede Entscheidung, die er traf, führte ihn immer vor eine neue Entscheidung, die ihrerseits abermals eine Entscheidung nach sich zog. Aber alle diese Entscheidungen änderten nichts daran, daß er noch immer im Tausend Türen Tempel war - und es auch bleiben würde. Während er weiter- und immer weiterging, begann er darüber nachzudenken, woran das liegen mochte. Sein Wunsch hatte zwar ausgereicht, ihn in den Irrgarten hineinzuführen, aber er war offenbar nicht genau genug, um ihn auch den Weg hinausfinden zu lassen. Er hatte sich gewünscht, in Gesellschaft zu kommen. Aber jetzt wurde ihm bewußt, daß er sich darunter überhaupt nichts Genaues vorstellte. Und es half ihm nicht im geringsten zu entscheiden, ob er eine Tür aus Glas oder eine aus Korbgeflecht wählen sollte. Bis jetzt hatte er seine Wahl auch einfach so aus Lust und Laune getroffen, ohne viel dabei nachzudenken. Eigentlich hätte er jedesmal ebensogut die andere Tür nehmen können. Aber so würde er niemals hinausfinden.

Er stand gerade in einem Raum, dessen Licht grünlich war. Drei der sechs Wände waren mit Wolkenformen bemalt. Die Tür zur Linken war aus weißem Perlmutter, die zur rechten aus schwarzem Ebenholz. Und plötzlich wußte er, was er sich wünschte: Atréju!

Die perlmutterne Tür erinnerte Bastian an den Glücksdrachen Fuchur, dessen Schuppen wie weißes Perlmutter glitzerten, also entschied er sich für diese.

Im nächsten Raum gab es zwei Türen, deren eine aus Gras geflochten war, die andere bestand aus einem Eisengitter. Bastian wählte die aus Gras, weil er an das Gräserne Meer, Atréjus Heimat, dachte.

Im darauffolgenden Raum fand er sich vor zwei Türen, die sich nur dadurch unterschieden, daß die eine aus Leder war, die andere aus Filz. Bastian ging natürlich durch die aus Leder.

Wieder stand er vor zwei Türen, und hier mußte er doch noch einmal überlegen. Die eine war purpurrot und die andere olivgrün. Atréju war eine Grünhaut, und er trug einen Mantel aus dem Fell der Purpurbüffel. Auf der olivgrünen Tür waren einige einfache Zeichen mit weißer Farbe gemalt, so wie Atréju sie auf Stirn und Wangen hatte, als der alte Caíron zu ihm gekommen war. Dieselben Zeichen waren aber auch auf der purpurroten Tür, und davon, daß auf Atréjus Mantel solche Zeichen gewesen wären, wußte Bastian nichts. Also mußte es sich da um einen Weg handeln, der zu einem anderen, aber nicht zu Atréju führte.

Bastian öffnete also die olivgrüne Tür - und stand im Freien!

Zu seiner Verwunderung war er aber nicht etwa im Gräsernen Meer gelandet, sondern in einem lichten Frühlingswald. Sonnenstrahlen drangen durch das junge Laubwerk und ihre Licht- und Schattenspiele flirrten auf dem moosigen Boden. Es duftete nach Erde und Pilzen, und die laue Luft war von Vogelgezwitscher erfüllt.

Bastian drehte sich um und sah, daß er soeben aus einer kleinen Waldkapelle herausgetreten war. Für diesen Augenblick also war die Pforte der Ausgang des Tausend Türen Tempels gewesen. Bastian öffnete sie noch einmal, aber er sah nur den engen, kleinen Kapellenraum vor sich. Das Dach bestand nur noch aus einigen morschen Balken, die in die Waldesluft ragten, und die Wände waren mit Moos überzogen.

Bastian machte sich auf den Weg, ohne zunächst zu wissen wohin. Er zweifelte nicht daran, früher oder später auf Atréju zu stoßen. Und er freute sich ganz unbändig auf das Zusammentreffen. Er pfiff den Vögeln zu, die ihm antworteten, und er sang laut und übermütig, was ihm gerade so in den Sinn kam.

Nach kurzer Wanderung erblickte er auf einer Lichtung eine Gruppe von Gestalten, die dort lagerten. Beim Näherkommen erkannte er, daß es sich um mehrere Männer in prachtvollen Rüstungen handelte. Auch eine schöne Dame war bei ihnen. Sie saß im Gras und klimperte auf einer Laute. Im Hintergrund standen einige Pferde, die kostbar gesattelt und gezäumt waren. Vor den Männern, die im Grase lagen und plauderten, war ein weißes Tuch ausgebreitet, auf dem allerlei Speisen und Trinkbecher standen.

Bastian näherte sich der Gruppe, doch zuvor verbarg er das Amulett der Kindlichen Kaiserin unter seinem Hemd, denn er hatte Lust, erst einmal unerkannt und ohne Aufsehen zu erregen, die Gesellschaft kennenzulernen.

Als sie ihn kommen sahen, standen die Männer auf und begrüßten ihn höflich, indem sie sich verbeugten. Sie hielten ihn offensichtlich für einen morgenländischen Prinzen oder dergleichen. Auch die schöne Dame neigte lächelnd ihren Kopf vor ihm und zupfte weiter auf ihrem Instrument. Unter den Männern war einer besonders groß und besonders prunkvoll gekleidet. Er war noch jung und hatte blonde Haare, die ihm auf die Schultern herabfielen.

»Ich bin Held Hynreck«, sagte er, »diese Dame ist Prinzessin Oglamár, die Tochter des Königs von Lunn. Diese Männer sind meine Freunde Hýkrion, Hýsbald und Hýdorn. Und wie ist Euer Name, junger Freund?«

»Ich darf meinen Namen nicht nennen - noch nicht«, antwortete Bastian.

»Ein Gelübde?« fragte Prinzessin Oglamár ein wenig spöttisch, »so jung und schon eine Gelübde?«

»Ihr kommt gewiß von weither?« wollte Held Hynreck wissen.

»Ja, von sehr weit«, erwiderte Bastian.

»Seid Ihr ein Prinz?« erkundigte sich die Prinzessin und betrachtete ihn wohlgefällig.

»Das verrate ich nicht«, entgegnete Bastian.

»Nun, jedenfalls willkommen bei unserer Tafelrunde!« rief Held Hynreck, »wollt Ihr uns die Ehre erweisen, bei uns Platz zu nehmen und mit uns zu tafeln, junger Herr?«

Bastian nahm dankend an, setzte sich und griff zu.

Aus dem Gespräch, das die Dame und die vier Herren führten, erfuhr er, daß ganz in der Nähe die große und herrliche Silberstadt Amargánth lag. Dort sollte eine Art Wettkampf stattfinden. Von nah und fern kamen die wagemutigsten Helden, die besten Jäger, die tapfersten Krieger, aber auch allerlei Abenteurer und verwegene Kerle, um an der Veranstaltung teilzunehmen. Nur die drei Mutigsten und Besten, die alle anderen besiegt hatten, sollten der Ehre teilhaftig werden, an einer Art Suchexpedition teilzunehmen. Es sollte sich dabei um eine wahrscheinlich sehr lange und abenteuerliche Reise handeln, deren Ziel es war, eine bestimmte Persönlichkeit zu finden, die sich irgendwo in einem der zahllosen Länder Phantásiens aufhielt und die nur »der Retter« genannt wurde. Den Namen kannte noch niemand. Ihm jedenfalls verdanke das Phantásische Reich, daß es wieder, oder noch immer, existierte. Irgendwann vor Zeiten sei nämlich eine entsetzliche Katastrophe über Phantásien hereingebrochen, durch die es um ein Haar ganz und gar vernichtet worden wäre. Das habe der besagte »Retter« im letzten Augenblick abgewehrt, indem er gekommen sei und der Kindlichen Kaiserin den Namen Mondenkind gegeben habe, unter dem sie heute jedes Wesen in Phantásien kenne. Seither irre er aber unerkannt durch die Lande, und Aufgabe der Suchexpedition würde es sein, ihn ausfindig zu machen und ihn dann sozusagen als Leibwache zu begleiten, damit ihm nichts zustoße. Dazu aber waren nur die tüchtigsten und mutigsten Männer ausersehen, denn es konnte sein, daß es dabei unvorstellbare Abenteuer zu bestehen galt.