»Jaja«, antwortete Bastian schon halb im Schlaf.
Mitten in der Nacht erwachte er von einem eigentümlichen Geräusch. Er konnte sich nicht erklären, was es war. Das Feuer war erloschen, und völlige Dunkelheit umgab ihn. Dann fühlte er Atréjus Hand auf seiner Schulter und hörte ihn flüstern:
»Was ist das?«
»Ich weiß auch nicht«, flüsterte er zurück.
Sie krochen zum Eingang der Höhle, von wo das Geräusch kam, und horchten genauer hin.
Es klang wie ein unterdrücktes Schluchzen und Weinen aus unzähligen Kehlen. Doch es hatte nichts Menschliches und noch nicht einmal Ähnlichkeit mit tierischen Klagelauten. Es war wie ein allgemeines Rauschen, das manchmal zu einem Seufzen anschwoll wie eine aufschäumende Welle und dann wieder verebbte, um nach einiger Zeit von neuem anzuschwellen. Es war der jammervollste Ton, den Bastian je gehört hatte.
»Wenn man wenigstens etwas sehen könnte!« flüsterte Atréju.
»Warte!« antwortete Bastian, »ich habe doch Al' Tsahir.«
Er zog den leuchtenden Stein aus seiner Tasche und hielt ihn hoch. Das Licht war mild wie das einer Kerze und erleuchtete den Talkessel nur schwach, doch genügte dieser Schimmer, um den beiden Freunden ein Bild zu zeigen, bei dem sich ihnen vor Abscheu die Haut kräuselte.
Der ganze Talkessel war von armlangen, unförmigen Würmern erfüllt, deren Haut aussah, als wären sie in schmutzige, zerfetzte Lumpen und Lappen gewickelt. Zwischen deren Falten konnten sie etwas wie schleimige Gliedmaßen hervorstrecken, die aussahen wie die Fangarme von Polypen. An einem Ende ihres Leibes blickten unter den Lappen jeweils zwei Augen hervor, Augen ohne Lider, aus denen beständig Tränen rannen. Sie selbst und der ganze Talkessel waren naß davon.
In dem Augenblick, als sie vom Licht Al' Tsahirs getroffen wurden, erstarrten sie, und so war zu sehen, womit sie gerade beschäftigt gewesen waren. In ihrer Mitte erhob sich ein Turm aus feinstem Silberfiligran - schöner und kostbarer, als alle Bauwerke, die Bastian in Amargánth gesehen hatte. Viele der wurmartigen Wesen waren offenbar gerade dabei gewesen, auf diesem Turm herumzuklettern und ihn aus einzelnen Teilen zusammenzusetzen. Jetzt aber waren alle reglos und starrten in das Licht von Al' Tsahir.
»Wehe! Wehe!« klang es wie ein entsetztes Flüstern durch den Talkessel, »jetzt ist unsere Häßlichkeit offenbar geworden! Wehe! Wehe! Wessen Auge hat uns erblickt? Wehe! Wehe, daß wir uns selbst sehen müssen! Wer du auch sein magst, grausamer Eindringling, sei gnädig und habe Erbarmen, und nimm dieses Licht wieder von uns!«
Bastian erhob sich.
»Ich bin Bastian Balthasar Bux«, sagte er, »und wer seid ihr?«
»Wir sind die Acharai », scholl es ihm entgegen, « die Acharai, die Acharai! Die unglücklichsten Geschöpfe Phantásiens sind wir!«
Bastian schwieg und schaute bestürzt Atréju an, der nun ebenfalls aufstand und neben ihn trat.
»Dann seid ihr es«, fragte er, »die die schönste Stadt Phantásiens gebaut habt, Amargánth?«
»So ist es, ach«, riefen die Wesen, »aber nimm dieses Licht von uns und sieh uns nicht an. Sei barmherzig!«
»Und ihr habt den Tränensee Murhu geweint?«
»Herr«, ächzten die Acharai, »es ist, wie du sagst. Doch werden wir sterben vor Scham und Grausen über uns selbst, wenn du uns weiterhin zwingst, in deinem Licht zu stehen. Warum vermehrst du unsere Qual so grausam? Ach, wir haben dir nichts getan, und niemand ist je durch unseren Anblick beleidigt worden.«
Bastian steckte den Stein Al’ Tsahir wieder in seine Tasche, und es wurde stockdunkel.
»Danke!« riefen die schluchzenden Stimmen, »danke für deine Gnade und dein Erbarmen, Herr!«
»Ich möchte mit euch reden«, sagte Bastian, »ich will euch helfen.«
Ihm war beinahe schlecht vor Abscheu und Mitleid mit diesen Kreaturen der Verzweiflung. Es war ihm klar, daß es jene Geschöpfe waren, von denen er in seiner Geschichte über die Entstehung von Amargánth gesprochen hatte, aber wie jedesmal, so war er sich auch diesmal nicht sicher, ob sie schon seit immer dagewesen oder erst durch ihn entstanden waren. In diesem letzteren Fall wäre er auf irgendeine Weise verantwortlich für all dieses Leid.
Aber wie auch immer es sich verhalten mochte, er war entschlossen, diese schreckliche Sache zu ändern.
»Ach«, wimmerten die klagenden Stimmen, »wer kann uns helfen?«
»Ich«, rief Bastian, »ich trage AURYN.«
Nun wurde es plötzlich still. Das Weinen verebbte ganz.
»Woher kommt ihr so plötzlich?« fragte Bastian ins Dunkel.
»Wir wohnen in den lichtlosen Tiefen der Erde«, raunte es zurück wie ein vielstimmiger Chor, »um unseren Anblick der Sonne zu verbergen. Dort weinen wir immerfort über unser Dasein und waschen mit unseren Tränen das unzerstörbare Silber aus dem Urgestein, aus dem wir dann jenes Filigran weben, das du gesehen hast. Nur in den finstersten Nächten wagen wir uns an die Oberfläche hinauf, und diese Höhlen sind unser Ausgang. Hier oben fügen wir dann zusammen, was wir unten vorbereitet haben. Und gerade diese Nacht war dunkel genug, um uns unseren eigenen Anblick zu ersparen. Darum sind wir hier. Durch unsere Arbeit versuchen wir unsere Häßlichkeit an der Welt wiedergutzumachen, und wir finden ein wenig Trost darin.«
»Aber ihr könnt doch nichts dafür, daß ihr so seid!« meinte Bastian.
»Ach, es gibt mancherlei Schuld«, antworteten die Acharai, »die der Tat, die des Gedankens - die unsere ist die unseres Daseins.«
»Wie kann ich euch helfen?« fragte Bastian, der fast vor Mitleid weinte.
»Ach, großer Wohltäter«, riefen die Acharai, »der du AURYN trägst und die Macht hast, uns zu erlösen - wir bitten dich nur um eins: Gib uns eine andere Gestalt!«
»Das will ich tun, seid nur ganz getrost, ihr armen Würmer!« sagte Bastian. »Ich wünsche mir, daß ihr jetzt einschlaft, und wenn ihr morgen früh aufwacht, dann kriecht ihr aus eurer Hülle heraus und seid Schmetterlinge geworden. Ihr sollt bunt und lustig sein und nur noch lachen und Spaß haben! Von morgen an heißt ihr nicht mehr Acharai, die Immer-Weinenden, sondern Schlamuffen, die Immer-Lachenden!«
Bastian lauschte in die Dunkelheit, aber es war nichts mehr zu hören.
»Sie sind schon in Schlaf gefallen«, flüsterte Atréju.
Die beiden Freunde kehrten in die Höhle zurück. Die Herren Hýsbald, Hýdorn und Hýkrion schnarchten noch immer leise und hatten von dem ganzen Ereignis nichts bemerkt.
Bastian legte sich nieder.
Er fühlte sich äußerst zufrieden mit sich.
Bald würde ganz Phantásien von dieser guten Tat erfahren, die er soeben vollbracht hatte. Und sie war ja wirklich selbstlos gewesen, denn niemand konnte behaupten, daß er irgend etwas dabei für sich gewünscht hatte. Der Ruhm seiner Güte würde in hellem Glanz erstrahlen.
»Was sagst du dazu, Atréju?« flüsterte er.
Atréju schwieg eine Weile, ehe er antwortete:
»Was mag es dich gekostet haben?«
Erst ein wenig später, als Atréju schon schlief, begriff Bastian, daß der Freund damit auf das Vergessen angespielt hatte, und nicht etwa auf Bastians Selbstverleugnung. Aber er dachte nicht weiter darüber nach und schlief im Vorgefühl der Freude ein.
Am nächsten Morgen erwachte er von lärmenden Verwunderungsrufen der drei Ritter:
»Seht euch das an! - Meiner Treu, da kichert sogar meine alte Mähre!«
Bastian sah, daß sie im Höhleneingang standen, und Atréju war bei ihnen. Er war der einzige, der nicht lachte.