Aber weniger als eine halbe Stunde danach blickte Skar noch einmal in die Richtung zurück, in der Crons Hof lag, und sah den Widerschein von Flammen am Himmel.
5.
Sie ritten ohne Pause bis spät in den Abend hinein, und wie auf der ersten Etappe ihres Weges durch das Land der Quorrl mieden sie bewohnte Gegenden und die Nähe von Dörfern. Ihr Weg führte sie jetzt nicht mehr direkt nach Norden, sondern mehr in östliche Richtung, und das Donnergrollen Ningas, von dem Skar noch immer nicht wußte, was es nun eigentlich bedeutete, wurde allmählich wieder leiser. Als sie am Abend, eine gute Stunde nach Sonnenuntergang, ihr Lager aufschlugen, war es nur noch zu erahnen, und vielleicht nicht einmal das. Vielleicht hörte Skar es nur noch, weil er wußte, daß es da war.
Während Titch das Lager aufzuschlagen begann, nahm Kiina einen Teil der Vorräte aus den Satteltaschen, die Cron ihnen mitgegeben hatte, und bereitete eine einfache Mahlzeit vor: leichten Wein und gesalzenes Fleisch, das sie roh hinunterschlingen mußten, denn sie wagten es nicht, ein Feuer zu entzünden. Sie aßen schweigend, und auch hinterher sagte niemand ein Wort, bis Skar die Stille nicht mehr aushielt und er aufstand, um ein paar Schritte zu gehen. Titch sah ihm nach, reagierte aber nicht einmal auf seinen Blick, während Kiina fast krampfhaft versuchte, nicht in seine Richtung zu blicken und so zu tun, als wäre sie in Gedanken versunken; wobei Skar allerdings ganz genau bemerkte, daß sie ihn aus den Augenwinkeln heraus scharf beobachtete.
Er schluckte die Bemerkung hinunter, die ihm auf der Zunge lag, und ging scheinbar ungerührt weiter. In seinem Innern jedoch brodelte es. Kiina war den ganzen Tag über wortkarg gewesen und ihm ausgewichen, so gut dies möglich war. Und es war wirklich erstaunlich, welch einen großen Bogen man um einen anderen schlagen konnte, ohne sich weiter als zwei oder drei Schritte von ihm zu entfernen.
Sie hatten ihr Lager am Rande eines kleinen Waldfleckens aufgeschlagen, dessen drahtiges Unterholz ihnen wenigstens in der Nacht Schutz vor einer zufälligen Entdeckung gab und das nicht mehr als vierzig, allerhöchstens fünfzig Schritte durchmaß, so daß kaum die Gefahr bestand, daß er sich etwa verirrte. Trotzdem entfernte sich Skar nur so weit von Kiina und Titch, daß er ihre Gestalten noch als unscharfe Schatten erkennen konnte, ehe er stehenblieb und sich müde an einen Baum lehnte. Für einen Moment spürte er nichts als den Wunsch, zu schlafen. Der Ritt war anstrengend gewesen, und Scrats Trank hatte längst seine Wirkung verloren. Er spürte jede Meile, die sie zurückgelegt hatten, wie eine unsichtbare Zentnerlast auf den Schultern. Und gleichzeitig hatte er Angst davor, sich hinzulegen und die Augen zu schließen. Zeit war so kostbar geworden; viel zu kostbar, um sie mit Schlaf zu verschwenden.
Du stirbst, Satai. In einer Woche, längstens einem Monat. Seltsam - er hatte sich immer eingeredet, keine Angst vor dem Tod zu haben. Jetzt, da der Tod zu etwas Realem, Näherkommenden geworden war, hatte er Angst vor ihm, ganz entsetzliche Angst sogar. Vielleicht, weil es sich um eine andere Art des Sterbens handelte als die, die über lange Jahre seines Lebens sein Weggefährte gewesen war. Der Tod auf dem Schlachtfeld war ihm bekannt und vertraut, fast so etwas wie ein alter Freund, auf dessen Ankunft er stets gefaßt gewesen war. Aber das hier war... anders. Auf eine Art anders und schlimmer, die Skar nicht in Worte fassen konnte.
Er verscheuchte den Gedanken, öffnete mit einem Ruck wieder die Augen und atmete tief ein. Er war drauf und dran gewesen, im Stehen einzuschlafen. Er fühlte sich schlecht. In seinem Mund war schon wieder dieser bittere Kupfergeschmack - sein Zahnfleisch blutete jetzt fast immer - und seine tastende Zunge verriet ihm, daß einige seiner Zähne locker waren. Das Gift, das Kiina und er in Elay eingeatmet hatten, wirkte vielleicht langsam, aber unerbittlich.
Als wäre dieser Gedanke ein Stichwort gewesen, tauchte das Gesicht der Margoi vor seinem inneren Auge auf; die pergamentene Totenfratze, in die der graue Staub ihr Antlitz verwandelt hatte. Vielleicht war es das, was ihm solche Angst machte, dachte Skar. Er hatte seinen eigenen Tod gesehen, und was er in der Höhle unter Elay erblickt hatte, das war entsetzlich gewesen. Entsetzlich und eines Menschen unwürdig. Er wußte, daß er nicht so sterben würde.
Skar verscheuchte auch diesen Gedanken, löste sich endgültig von seinem Platz und ging zu den anderen zurück. Aber er setzte sich nicht wieder zu Kiina und dem Quorrl, sondern blieb abermals stehen und trat nach sekundenlangem Zögern zu den Pferden. Eines der Tiere reagierte mit einem verlangenden Schnauben auf seine Annäherung. Skar lächelte, hob die Hand und streichelte seine Blesse. Das Tier revanchierte sich mit einem freundschaftlichen Stupser seiner großen, feuchten Nase, der Skar fast aus dem Gleichgewicht gebracht hätte.
»Sei vorsichtig«, sagte Titch hinter ihm. »Sie sind Reiter gewöhnt, die zehnmal so stark sind wie du.«
Skar drehte sich überrascht zu dem Quorrl um. Er hatte nicht einmal gehört, daß Titch aufgestanden und näher gekommen war. Entweder hatte sich der Quorrl besonders leise bewegt, oder seine Sinne verloren allmählich ihre gewohnte Schärfe, dachte Skar beunruhigt.
»Jetzt übertreibst du«, sagte er, um seine Verlegenheit zu überspielen.
Titch zuckte mit den Achseln und begann seinerseits die Stirn des Tieres zu streicheln. »Meinetwegen auch nur dreimal.« Skar sah zu der Stelle hinüber, an der er Titch und Kiina das letztemal gesehen hatte. Das Mädchen war nicht mehr da. »Wo ist Kiina?« fragte er.
Titch zuckte abermals mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Sie geht ein wenig herum, denke ich.«
»Du meinst, sie geht mir aus dem Weg.«
»Hätte sie denn einen Grund dazu?« Titch sah ihn noch immer nicht an, sondern schien voll und ganz damit beschäftigt, das Pferd zu tätscheln, das seine rauhen Liebkosungen mit einem Geräusch quittierte, das fast an das Schnurren einer Katze erinnerte.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Skar. »Vielleicht. Was hat Scrat ihr erzählt?«
»Die Wahrheit, denke ich«, antwortete Titch. »Ich habe so wenig mit ihr gesprochen wie du. Aber wenn Scrat es noch nicht getan hat, dann solltest du es tun - und zwar bald. Morgen abend werden wir Caran erreichen. Es kann sein, daß uns dann nicht mehr viel Zeit zu langen Erklärungen bleibt. Sie wird sich fragen, warum wir sie überhaupt mitnehmen, auf eine so gefährliche Mission.«
»Kaum«, antwortete Skar. »Sie ist ein Kind, und sie ist -«
»- nicht dumm«, fiel ihm Titch ins Wort. »Ich an ihrer Stelle hätte mir diese Frage längst gestellt, und du auch, Satai.«
»Ich habe ihr versprochen, sie mitzunehmen.«
»Unsinn«, sagte Titch überzeugt. »Versprechen hin oder her - du bist kein Mann, der dafür bekannt ist, unnötige Risiken einzugehen. Und sie ist ein Risiko. Ein größeres, als du wahrhaben willst.«
Skar sah ihn scharf an. Obwohl sie kaum anderthalb Meter auseinanderstanden, konnte er Titchs Gesicht nicht erkennen, denn die Nacht war sehr dunkel. Aber die Stimme des Quorrl klang nervös. Er war nicht nur aufgestanden, um mit ihm zu plaudern; nicht einmal, um über Kiina zu reden.
»Erzähl mir von Caran«, sagte er übergangslos. »Und -« Er deutete auf die beiden geschnitzten Truhen, die sie vom Sattelgurt des Packpferdes gelöst und in zwei Schritten Abstand am Waldrand deponiert hatten. »- davon.«
Titchs Blick folgte seiner Geste, und trotz der Dunkelheit konnte Skar den Schatten erkennen, der über seine Züge huschte. »Caran«, murmelte er. »Ich fürchte, es gibt nicht viel, was ich dir darüber erzählen kann. Ich weiß, daß die Höhlen existieren, und ich weiß, wo sie sind, aber das ist auch alles. Sie sind das Versteck der Bastarde. Ihre ...« Er lächelte flüchtig. »... ihre Räuberhöhle, würdest du sagen. Sie leben dort, wenn sie nicht gerade auf Raubzug gehen oder eine Stadt niederbrennen.«