»Auf Raubzug?« Nach allem, was Skar während seines kurzen Aufenthaltes in diesem Land über das Volk der Quorrl und vor allem über ihre Art zu leben gelernt hatte, fiel es ihm schwer, die Vorstellung von Räuberbanden zu akzeptieren, und er sagte es Titch.
Der Quorrl nickte. »Oh, sie sind auch keine Räuber, wie du sie kennst«, sagte er. »Sie stehlen und rauben, um zu leben, das ist wahr, aber sie tun es nicht aus Überzeugung, oder weil es ihnen Freude bereitet. Sie haben keine andere Wahl.«
»Das klingt wie eine Verteidigung.«
»Das ist es auch«, bekannte Titch mit überraschender Offenheit. »Ich verstehe sie. Obgleich ich viele von ihnen erschlagen habe.«
»Dann ist es für dich nicht ungefährlich, zu ihnen zu gehen.«
»Es ist lange her«, antwortete Titch ausweichend. »Und du weißt doch, ein Quorrl sieht aus wie der andere. Ich glaube nicht, daß sie mich erkennen.«
Skar blieb ernst. Aber er ging nicht weiter auf das Thema ein - wenn Titch ihm sagen wollte, wer die Bastarde waren und was sie in Caran erwartete, dann würde er es tun, und wenn nicht, dann nutzte alles Fragen und Drängen nichts -, sondern kniete nach ein paar Augenblicken neben einer der Truhen nieder und versuchte den Deckel zu öffnen. Obwohl er nicht in seine Richtung sah, spürte Skar, daß Titch ihn aufmerksam beobachtete. Aber der Quorrl schien nichts dagegen zu haben, und so drückte und schob er so lange an dem primitiven Mechanismus des Schlosses herum, bis er mit einem Klicken aufsprang. Behutsam hob er den Deckel der Kiste an und sah hinein.
Obwohl er gewußt hatte, was er finden würde, war er überrascht.
Im Innern der Truhe befand sich ein hölzernes, mit weichem Stoff ausgeschlagenes Gestell, in dem zahllose, gelblichgrün schillernde Eier lagen. Jedes war so groß wie eine Kinderfaust, und obgleich ihre Oberflächen nicht glatt waren, sondern aus winzigen überlappenden Schuppen bestanden, machten sie auf Skar einen höchst zerbrechlichen Eindruck. Zögernd streckte er die Hand aus und hielt inne, als Titch eine Bewegung machte. »Faß sie nicht an, bitte.« Titch trat neben ihn, blickte einen Moment mit undeutbarem Ausdruck in die Truhe und bat Skar dann mit einer Geste, den Deckel wieder zu schließen. Skar gehorchte.
»Was werden sie damit tun?« fragte Skar. »Sie ausbrüten?« Titch lachte leise. »Das ist nicht nötig. Wir sind keine Vögel, Skar. Und auch keine Kröten, auch wenn wir so aussehen. In genau hundert Tagen werden die Jungen schlüpfen, und sie werden nichts mit ihnen tun. Und das ist genau das, was Cron wollte. Nichts.«
»Du meinst, sie werden nicht zu Kriegern heranwachsen«, vermutete Skar.
»Das werden sie sogar ganz bestimmt«, erwiderte Titch. »Zumindest einige von ihnen, denn die Bastarde sind Krieger.«
»War Crons Opfer dann nicht sinnlos?«
Titch schüttelte heftig den Kopf. »Es gibt einen Unterschied, Skar. Aber ich weiß nicht, ob du ihn verstehst.«
Ehe er antwortete, sah Skar sich noch einmal um. Von Kiina war nichts zu sehen. Die Nacht war zwar dunkel genug, daß sie in ein paar Schritten Entfernung stehen konnte, ohne daß er sie sah, aber er spürte, daß es nicht so war. Irgendwie hatte er stets gefühlt, wenn sie in seiner Nähe war. »Erkläre ihn mir.«
»Es sind die Bestimmer, die das Schicksal festlegen«, sagte Titch. »Sie und die Priester des heiligen Tempels in Ninga.« Er deutete auf die Truhen. »Sie bestimmen, was aus diesen Eiern schlüpfen wird.«
»Wie?« fragte Skar. Er war weder überrascht noch schockiert. Crons Worte waren zwar verwirrend gewesen, aber doch eindeutig, zusammen mit dem, was er schon vorher von Titch erfahren hatte. Es gab mehr Unterschiede zwischen seinem Volk und dem der Quorrl als das Aussehen.
»Das weiß niemand«, antwortete Titch. »Einmal im Jahr, wenn der Winter vorüber ist, ziehen die Bestimmer durch das Land und sammeln die Brut ein, um sie nach Ninga zu holen. Bringen sie sie zurück, so steht fest, ob es Krieger oder Handwerker, Bauern oder Kaufleute sein werden.«
»Und das glaubt ihr?« Skar schüttelte zweifelnd den Kopf. »Es ist so«, sagte Titch überzeugt. »Oh, ich weiß, was du jetzt denkst, aber du täuschst dich. Es ist kein Trick. Kein Hokuspokus, um ein abergläubisches Volk im Zaum zu halten. Sie wissen vorher, was aus der Brut wird. Der Bestimmer erfragt die Wünsche der Ahnen und wägt ab, was gut für sie und was gut für unser Volk ist.«
»Das ist doch Unsinn!« protestierte Skar. »Du hast es selbst gesagt, Titch: sie schlüpfen so oder so, und -«
»Du verstehst immer noch nicht«, unterbrach ihn Titch. »Hast du schon vergessen, was Ennart dir erzählt hat? Wir sind nicht wie ihr. Wir wurden gemacht, Skar. Wir sind Werkzeuge. Das dort in den Kisten, das ist nur das Rohmaterial, der Stahl, der in Ninga geschmiedet wird. Und nur seine Herren bestimmen, zu welcher Form. Sieh mich an. Ich bin ein Krieger. Ich bin es immer gewesen, vom Tage meiner Geburt an, und ich werde es sein, solange ich lebe. Es spielt keine Rolle, ob ich es will oder nicht. Ich kann nicht anders. Etwas in mir... etwas in diesen ungeborenen Quorrl dort, wird... verändert.«
»Außer, sie werden nicht nach Ninga gebracht«, sagte Skar düster.
Titch antwortete nicht sofort. Seine Stimme war leiser geworden, während er sprach, und bitterer, und es war wieder derselbe, hilflose Zorn darin, den Skar schon einmal gehört hatte, als Titch über sein Volk sprach.
»Ja«, flüsterte er nach einer Weile. »Außer, sie werden zu Bastarden. Vielleicht werden auch sie eines Tages zu Kriegern werden, und vielleicht sogar zu wilderen und zornigeren Kriegern, als ich je einer war, oder irgendeiner meiner Männer. Aber es wird ihre Entscheidung sein, und das ist der Unterschied. Dafür hat Cron sein Leben gegeben. Nicht für dich oder mich.«
»Und dafür bist du bereit, deines zu opfern«, sagte Skar ernst. »Vielleicht.«
»Aber begreifst du denn nicht?« sagte Skar. »Es ist nicht wahr, Titch. Ihr könnt aus eurem Schicksal ausbrechen! Das, was du tust, beweist es doch!«
»Was tue ich?«
»Du lehnst dich gegen sie auf. Du selbst bekämpfst sie, obwohl du behauptest, es nicht zu können.«
»Aber ich bleibe ein Krieger«, sagte Titch beinahe sanft. »Meine Feinde haben sich geändert, nicht ich. Ich wurde zum Kämpfen gemacht, und ich werde kämpfen. Ich kann nichts anderes. Sowenig wie du.« Er senkte müde das Haupt, und Skar spürte, daß der Quorrl jetzt nicht weiter reden würde, ganz gleich, was er sagte.
Und es war auch nicht nötig. Mit wenigen Sätzen hatte Titch ihm mehr über das Volk der Quorrl verraten, als wahrscheinlich jemals ein lebender Mensch gewußt hatte, mehr als irgendein Mensch wissen durfte. Und er ahnte, daß dieses Geheimnis größer und schrecklicher war, als er jetzt schon begreifen mochte, der wahre Grund, aus dem das Schuppenvolk aus dem Norden so hart war, und so unbarmherzig jeden vernichtete, der den Grenzen seines Landes auch nur nahe kam, denn es würde untergehen, an gebrochener Selbstachtung sterben wie ein Mensch an gebrochenem Herzen, würde jemals bekannt, was sie wirklich waren.
Seltsam, dachte Skar. Die Dinge hatten sich verkehrt. Nichts war mehr so, wie es war. Aus den Menschen, dem Volk, das sich als die rechtmäßigen Herren Enwors dünkte, waren die Eroberer geworden, Diebe, die nicht weniger als eine ganze Welt gestohlen hatten, und das Volk, das als Inbegriff der Härte und des Schreckens galt, der Quorrl, erschien ihm plötzlich empfindsamer und verwundbarer, als es die Menschen jemals gewesen waren. Er sah auf, las die unausgesprochene Frage in Titchs Blick und nickte fast unmerklich. Ich werde schweigen. Und Titch seinerseits las die Antwort in seinen Augen.
»Was wirst du tun, wenn wir Ninga erreichen?« fragte er. Und er las auch die Antwort auf diese Frage in Titchs Blick, ehe der Quorrl sie aussprach.
»Es zerstören«, antwortete Titch.