»In dir?«. Kiina versuchte zu lachen, aber es gelang ihr nicht. In die verunglückte Mimik, zu der ihr Spott geriet, mischte sich eine erste Spur aufkeimenden Entsetzens, das sich nur noch einen Moment hinter Hysterie verbergen konnte.
»Was ... was meinst du ... damit?« stammelte sie.
»Nicht so wie in Helth«, sagte Skar rasch. »Er... er gehört zu mir. Er ist ein Teil von mir, so wie... wie ich ein Teil von ihm bin.«
Es war so schwer, es in Worte zu fassen; vielleicht, weil auch er selbst bis jetzt nicht wirklich begriffen hatte, wie viel seiner Seele seinem Dunklen Bruder gehörte, und wie wenig noch ihm. Vielleicht war es genau umgekehrt, und vielleicht war er der Schatten, ein lächerlich zappelndes Etwas, das sich einbildete, Herr über ein Leben zu sein, in dem es in Wahrheit nur geduldet gewesen war, von Anfang an. »Ich habe geglaubt, ich könnte ihn besiegen«, fuhr er fort. »Aber ich bin mir nicht mehr sicher.« Titch starrte ihn an. Er schwieg, verzog nicht einmal eine Miene, aber Skar spürte genau, daß ihm diese Worte nicht reichten. Er hatte den Quorrl belogen, vielleicht nur einmal, aber es war einmal zu oft gewesen. Und plötzlich riß Titch sein Pferd herum, rammte ihm die Fersen in den Leib und sprengte davon, so schnell, daß Skar nicht einmal Zeit fand, einen Ruf auszustoßen, um ihn zurückzuhalten. Die Nacht verschluckte den Quorrl binnen Sekunden. Nur das dumpfe Dröhnen seiner Hufschläge war noch für eine Weile zu hören, bis auch dieses Geräusch leiser wurde und schließlich ganz verklang.
»Er wird wiederkommen«, sagte Skar leise, zu Kiina gewandt und ohne wirkliche Überzeugung. Denn wenn nicht, dann ist das unser Todesurteil. Auch seines. »Er kommt bestimmt zurück. Er... braucht sicher einfach eine Weile für sich.«
Er drehte sich im Sattel um und sah Kiina an, aber das Mädchen schien seine Worte gar nicht gehört zu haben. Aus weit aufgerissenen Augen starrte es in die Nacht hinaus, in die Richtung, in der Titch verschwunden war; aber Skar war fast sicher, daß sie etwas ganz anderes sah.
»Kiina«, sagte er schleppend. »Ich -«
»Erzähl es mir«, unterbrach ihn Kiina. »Alles.«
Skar blickt sie an, schwieg, und sah schließlich zu Boden. Er wollte reden, endlich mit jemandem reden, der sein dunkles Geheimnis mit ihm teilte und es ihm somit ein wenig leichter machte, es zu ertragen; und gleichzeitig fürchtete er sich davor wie vor nichts anderem auf der Welt.
Aber dann sah er auf und glaubte einen Schatten zu sehen, ein flüchtiges schwarzes Huschen vor der noch dunkleren Farbe der Nacht, und mit dem Wind wehte ein unhörbares böses Lachen zu ihm heran, ein Geräusch, das voller Spott und Hohn war, aber auch das Versprechen auf kommenden, noch größeren Schrecken mit sich brachte, und etwas wie Trotz regte sich ihn ihm.
Skar begann zu reden.
8.
Er sprach lange. Skar achtete nicht auf die Zeit, aber es mußte eine Stunde sein, in der er redete; langsam, leise und mit fast teilnahmsloser Stimme, und Kiina zuhörte; wortlos, starr und mit ausdruckslosem Gesicht. Er erzählte ihr alles; alles, woran er sich erinnerte und alles, was ihm während des Redens noch einfiel, und das war eine Menge. Sie war der erste Mensch in seinem Leben, der die Geschichte seines Dunklen Bruders von Anfang an hörte, und, ohne daß er irgend etwas wegließ oder beschönigte. Während er sprach, geschah etwas mit ihm; eine Art Läuterung, die es ihm ermöglichte, ehrlicher zu ihr zu sein, als er es jemals sich selbst gegenüber gewesen war. Sie erfuhr mehr von seinem Leben, als selbst Del jemals gewußt hatte, und irgendwie spürte er, daß sie es auch besser verstand als er; vielleicht, weil sie während all der Zeit kein Wort sagte, sondern nur zuhörte, ihm nicht einmal mit einem Lächeln oder einem Stirnrunzeln zu verstehen gab, daß sie etwas verstand oder mißbilligte, sondern einfach zuhörte. Aber als er zu Ende gekommen war und sich die Pause in seinen Worten lange genug ausdehnte, Kiina begreifen zu lassen, daß es nichts mehr zu erzählen gab, war sie es, die das Schweigen brach.
»Du tust mir so leid, Skar«, sagte sie. Worte, die pathetisch, vielleicht sogar albern geklungen hätten, bei jeder anderen denkbaren Gelegenheit. Aber jetzt spürte er, daß sie ehrlich gemeint waren, und sie schienen ihm das wertvollste Geschenk, das er jemals bekommen hatte. Er hob die Hand, um sie zu berühren, wagte es aber dann nicht, sondern lächelte nur dankbar und sah sie an.
Kiina hielt seinem Blick ruhig stand. In ihren Augen war keine Spur von Furcht, sondern nur genau das, was sie gerade mit Worten ausgedrückt hatte: ein tiefes, vollkommen ehrlich gemeintes Mitleid, das ihn mit einem Gefühl von Wärme und Dankbarkeit erfüllte. Zum ersten Mal in seinem Leben machte ihn Mitleid nicht zornig, und er spürte plötzlich, wie viel, wie unendlich viel er versäumt und verloren hatte, einfach dadurch, daß er ein Leben fast ohne Freundschaft und Gefühle gelebt hatte. Stärker als je zuvor fühlte er sich zu dem Mädchen hingezogen, und heftiger als je zuvor fragte er sich, ob sie das war, wofür er sie hielt. Aber er brachte nicht einmal jetzt den Mut auf, sie zu fragen. Er hatte Angst, alles zu zerstören, wenn er nicht die Antwort bekam, die er hören wollte. Und vielleicht, dachte er, wollte er sie gar nicht wissen. Es mochte sein, daß es Lügen gab, die gut waren.
Irgendwann, nach einer langen Zeit, in der sie einfach in vertrautem Schweigen nebeneinander gesessen hatten, ohne sich wirklich zu berühren und doch näher, als Skar jemals einem Menschen gewesen war, stiegen sie wieder auf ihre Pferde und ritten weiter, in die Richtung, die Titch ihnen bedeutet hatte. Gegen Morgen kam Regen auf, der nicht lange anhielt, aber einen eisigen Hauch über dem Land zurückließ, Kälte jener besonders unangenehmen Art, die nicht einmal sehr heftig war, aber unerbittlich durch jedes Kleidungsstück und jeden Schutz kroch und Skar das Gefühl gab, in einen Mantel aus schneidendem Glas eingehüllt zu sein. Er hatte Schmerzen; viel heftigere, als er Kiina gegenüber zugab, und er fühlte sich schwach und krank, und die Kälte ließ ihn jede winzige Verletzung, jeden Schnitt und jeden Kratzer auf seiner Haut doppelt intensiv spüren.
Er begann Kiina auszuweichen, auf die gleiche Art, auf die sie ihm ausgewichen war, vorher - ohne sich wirklich weiter als zwei, drei Schritte von ihr zu entfernen, ohne auch nur ihrem Blick auszuweichen oder sich mit einer Miene anmerken zu lassen, was wirklich in ihm vorging, und doch spürbar. Kiina mußte die Mauer, die er zwischen ihr und sich selbst aufrichtete, so deutlich fühlen, wie er es umgekehrt getan hatte. Der Gedanke schmerzte ihn, um so mehr, als er völlig andere Gründe hatte als sie: sie wußte, daß er krank war, und sie wußte wohl auch, daß er sterben würde, aber er wollte nicht, daß sie sah, wie schlimm es wirklich war. Trotz allem war er noch immer - jetzt erst recht - der einzige Schutz, den sie hatte.
Aber das stimmt doch gar nicht, Bruder, wisperte die Stimme des Versuchers hinter seiner Stirn. Ich bin bei euch. Ich kann auch ihr helfen. Wenn das alles ist, was du willst, dann schenke ich dem Mädchen dasselbe wie dir. Unsterblichkeit. Macht.
Skar ignorierte das körperlose Wispern. Er war nicht einmal sicher, ob es wirklich dagewesen war, oder ob er es sich nur einbildete; ganz einfach, weil ein Teil von ihm diese Worte hören wollte, so sehr, wie der andere Teil sich davor fürchtete. Vielleicht war der Daij-Djan gar nicht da; vielleicht war er nie dagewesen. Vielleicht wurde er schlicht und einfach verrückt.
Trotzdem ertappte er sich dabei, ganz automatisch den Kopf zu heben und aus zusammengekniffenen Augen in den Regen hinauszublinzeln, der noch immer fiel. Aus den strömenden eisigen Fluten war ein kaum sichtbares Nieseln geworden, das aber fast noch kälter war. Die winzigen Tropfen stachen wie Nadeln in sein Gesicht und taten in den Augen weh. Skar ignorierte auch diesen neuerlichen Schmerz und versuchte, das allmählich aufweichende Grau der Dämmerung mit Blicken zu durchdringen.