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11.

Irgendwie schaffte er es, bis zum Abend durchzuhalten. Skar wußte nicht wie - wenn er versuchte, sich an den Tag zurückzuerinnern, dann war in seinen Gedanken nur ein wüstes Durcheinander von Schmerz und Fieber und Durst und Alpträumen, die ihn plagten, obwohl er nicht einmal schlief. Einmal hatte er geglaubt, den Daij-Djan zu sehen - er war neben Kiina geritten und hatte irgend etwas zu ihr gesagt, woraufhin sie sich zu ihm herumdrehte und antwortete, aber unter der schwarzen Kapuze des Quorrl-Mantels war nicht Kiinas Gesicht gewesen, sondern die grinsende Fratze der Sternenbestie, und um ein Haar hätte er sie geschlagen. Er bemerkte seinen Irrtum rechtzeitig, aber von diesem Moment an mied auch sie seine unmittelbare Nähe. Sie rasteten nicht unmittelbar am Fuß der Berge, wie Skar gehofft hatte, sondern ritten noch fast eine Stunde weiter, obwohl das Licht bald so schwach wurde, daß jeder Schritt auf dem rissigen, geröllübersäten Boden zu einem lebensgefährlichen Risiko wurde. Titch ließ eine kleine Anzahl seiner Krieger zurück, um ihren Rücken zu decken, aber die Hauptmacht des Heeres - während des ganzen Tages waren mehr oder weniger große Gruppen von Deserteuren zu ihnen gestoßen, so daß ihre Zahl nun auf über siebenhundert angewachsen war - quälte sich weiter, bis Caran zu einem gigantischen Schatten vor ihnen geworden war, der fast den gesamten Horizont ausfüllte, wie ein dreieckiges schwarzes Loch, das aus der Nacht ausgestanzt worden war.

Schließlich erreichten sie ein kleines Felsplateau, und Titch gab das Zeichen zum Anhalten. Die Krieger stiegen aus den Sätteln und begannen unverzüglich ein Lager aufzuschlagen - die Skar schon sattsam bekannten kleinen, schmuddeligweißen Zelte und zu seiner Überraschung auch eine große Anzahl mit Stein eingefaßter Feuerstellen. Aber er begriff auch fast im gleichen Moment, wie lächerlich seine Befürchtungen waren. Die Nacht würde kalt werden, und sie waren einfach zu viele, um auch nur den Versuch zu unternehmen, sich zu verstecken. Ganz davon abgesehen, daß es zum Caran hin so gut wie keine Deckung gab, mußten auch ihre Verfolger ganz genau wissen, wo sie zu finden waren. Titch hatte ihm erklärt, daß es nur diesen einen Weg zum Berg hinauf gab.

Müde und so ungeschickt, daß er fast stürzte, kletterte er vom Pferd und ließ sich schwer auf einen Felsen sinken. Seine Schultern schienen Zentner zu wiegen, und das Schwert zerrte wie eine Tonnenlast an seiner Hüfte. Ihm war übel.

»Hier«, sagte eine Stimme neben ihm. »Trink das.«

Skar sah auf und blinzelte wie durch einen Nebel aus Schwäche in Titchs Gesicht. Der Quorrl hatte wenig mit ihm geredet, seit ihrem Gespräch vom Mittag, aber er war ihm auch nicht direkt ausgewichen, wie Kiina es getan hatte. Mit zitternden Händen griff Skar nach der Schale, die der Quorrl ihm hinhielt, setzte sie an und stellte erleichtert fest, daß sie keine von Titchs Zaubertränken enthielt, sondern ganz ordinäres, aber eiskaltes Wasser. Er leerte sie mit großen, fast gierigen Schlucken.

»Hast du Hunger?« erkundigte sich Titch.

Skar hatte Hunger - er hatte seit zwei Tagen so gut wie nichts mehr gegessen, und wo sein Magen sein sollte, befand sich ein harter Klumpen, der im Rhythmus seines Herzschlages pulsierte. Aber allein der Gedanke an Essen machte ihn gleichzeitig fast krank.

»Ja«, antwortete er. »Aber ich kann nichts essen.«

Die Besorgnis in Titchs Blick wurde ein ganz kleines bißchen tiefer. Aber er ging mit keinem Wort auf Skars Antwort ein, sondern trat einen Schritt zurück und streckte die Hand aus, um ihm aufzuhelfen.

Skar schwindelte. Titch mußte fester zugreifen, um ein abermaliges Straucheln zu verhindern. »Bist du sicher, daß du gehen kannst?« fragte er.

»Gehen?« Alles in Skars Kopf drehte sich. Er hatte Mühe, den Sinn von Titchs Worten zu begreifen.

»Die Höhlen«, erinnerte Titch geduldig. »Es ist nicht mehr weit bis zum Eingang. Aber uns bleibt auch nicht mehr viel Zeit. Du solltest hierbleiben«, fügte er nach einem unmerklichen Zögern hinzu. »Der Weg ist nicht sehr weit, aber anstrengend. Ich bin nicht sicher, daß du es schaffst. Aber ich gebe dir mein Ehrenwort, daß ich zurückkomme.«

Auf eine absurde, völlig unlogische Weise erfüllten Skar diese Worte mit Trotz; einem Trotz, der ihm die Kraft gab sich loszureißen und auf eigenen Füßen zu stehen; und ohne daß der Quorrl ihn stützen mußte. »Ich komme mit«, sagte er. »Und wenn es das letzte ist, was ich tue.«

»Gib nur acht, daß es nicht wirklich das letzte ist«, murmelte Titch. Aber er versuchte nicht mehr, Skar zurückzuhalten, sondern wartete geduldig, bis dieser sich wieder weit genug in der Gewalt hatte, aufrecht zu stehen und zwar langsam, aber ohne zu taumeln, neben ihm herzugehen.

Seltsam - er hatte den Eindruck gehabt, daß sie erst seit wenigen Augenblicken auf dem von Felsen übersäten Plateau waren. Aber die Quorrl hatten das Lager bereits für die Nacht vorbereitet - rings um die nahezu kreisrunde Steinplatte waren Posten aufgestellt, die trotz der zahlreich brennenden Feuer beinahe vollständig mit der Nacht verschmolzen, und neben den zahlreichen kleinen Zelten waren überall Lager aus Fellen, Decken, Sätteln oder einfach nur Stoffetzen ausgerollt worden. Vielfältige Geräusche drangen durch die Nacht: Atmen und Reden, Schleifen und Rascheln, das Klirren von Metall und Glas, das Knarzen von altem Leder, Eß- und Trinkgeräusche, der Hufschlag von Pferden ...

Er blieb stehen, lauschte. Es war... beunruhigend; auf eine Art und Weise, die er nicht völlig verstand, und die ihm vielleicht gerade deshalb um so mehr angst machte. Es war, als kröche eine unsichtbare Linie einer zweiten, dunkleren Finsternis aus der Nacht heran, ein unheimliches Schweigen, in dem alle Geräusche doppelt intensiv, aber isoliert wirkten. Eine ungeheure Einsamkeit ergriff von ihm Besitz.

»Was hast du?« fragte Titch, der sein Zögern bemerkt hatte. Seine Stimme klang aufmerksam, fast erschrocken. Aber Skar reagierte nicht darauf. Er lauschte; nach außen und in sich hinein. Es war keine Einbildung. Seine Wahrnehmungen waren ganz plötzlich von phantastischer Klarheit; so, als sorge irgendeine übergeordnete Macht dafür, daß seine Sinne um so schärfer arbeiteten, je weiter sein Körper verfiel.

»Ich weiß es nicht«, beantwortete er Titchs Frage. »Irgend etwas... passiert.« War das der Tod? Plötzlich bekam er Angst. Sein Herz jagte. Kalter Schweiß bedeckte seine Stirn und seinen Nacken. Er hatte davon gehört, unzählige Male: daß alles viel klarer und einfacher erschien, in den letzten Momenten, daß man Dinge sah und hörte und fühlte und roch, an denen man sein ganzes Leben lang vorübergegangen war, ohne sie auch nur zu registrieren. Daß man ...

Er zwang sich mit Gewalt, den Gedanken nicht zu Ende zu denken, beantwortete Titchs besorgten Blick mit einem ebenso breiten wie falschen Lächeln und ging übertrieben schnell weiter. Seine eigenen Schritte dröhnten wie schwerer Hufschlag in seinen Ohren. Titch folgte ihm in zwei Schritten Abstand, ohne den Blick auch nur eine Sekunde von ihm zu nehmen. Skar spürte es, obwohl er sich nicht erlaubte, auch nur aus den Augenwinkeln in Titchs Richtung zu sehen.

Sie durchquerten das Lager, ohne auch noch mit einem einzigen Quorrl zu reden.

Skar nahm an, daß Titch bereits alles geklärt hatte: Anweisungen für die Dauer ihrer Abwesenheit, sicher auch für den Fall, daß sie nicht zurückkamen - die Chancen dafür standen weitaus besser als dafür, daß sie wiederkamen - für das, was mit Kiina zu geschehen hatte, in einem der beiden Fälle.

Kiina...

Gegen seinen Willen sah Skar auf und suchte nach ihr, ohne sie zu sehen. Wieder gestand er sich ein, daß er all dies hier letztendlich nur ihretwegen tat. Vielleicht um ihrer Mutter willen, der er ein Versprechen gegeben hatte, daß er niemals hatte einlösen können. Er - prallte so wuchtig gegen einen Felsen, daß er vor Schmerz und Überraschung aufschrie und beinahe gestrauchelt wäre. Titch streckte rasch die Hand nach ihm aus und hielt seinen Arm, auch, als längst klar war, daß er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Skar wollte sich instinktiv losreißen, unterdrückte den Impuls aber im letzten Moment. Ganz anders als sonst hatte die Berührung des Quorrl plötzlich etwas ungemein Beruhigendes. Für einen Moment glaubte er die Kraft des Quorrl zu fühlen wie einen ruhigen, mächtigen Strom reiner Stärke, von dem ein ganz kleines bißchen auch in ihn floß, ganz einfach, indem er Titch gestattete, seinen Arm zu halten.