»Was hast du?« fragte Titch noch einmal.
Skar löste seine Hand mit sanfter Gewalt aus der des Quorrl und zuckte mit den Schultern. Er wußte es nicht. Vielleicht wurde er verrückt. Vielleicht starb er. Er mußte fast all seine Kraft aufwenden, um in der Wirklichkeit zu bleiben. Dem, was er für die Wirklichkeit hielt. Er glaubte für einen Moment aufzuwachen, zum zweiten mal in kurzer Zeit aus seinem millenienwährenden Traum in die Wirklichkeit zurückzugleiten, eine von mehreren (zahllosen?) Wirklichkeiten, aber der Bann des Traumes war zu mächtig, der Schlaf zu tief. Für den Bruchteil einer Sekunde war er wieder er selbst, aber der Träumer war stärker - er spürte, wie er wieder hinabgezogen wurde in den schwarzen Wirbel des Traumes und schüttelte mühsam den Kopf, in einer Bewegung wie unter Schmerzen. Die Bilder, die für Bruchteile von Sekunden vor seinen Augen gewesen waren, verschwanden, aber sie ließen etwas zurück: ein Gefühl von Bitterkeit, das Gefühl - nein, das Wissen - etwas verloren zu haben, das er nie wirklich besessen hatte.
Wieder hob Titch die Hand, um ihn zu berühren, aber diesmal wich Skar ihm aus. Erfüllt von einem grundlosen, entsetzlichen Schrecken sah er sich um. Alles wirkte... falsch. Die wenigen Farben, die die Nacht übriggelassen hatte, waren falsch, die Geräusche noch immer überlaut und - deutlich, aber zu schrill, in einer Tonart, die unmöglich war, Titchs Bewegungen und die der schwarzen Schatten in der Nacht hinter ihm abgehackt und unecht, das ruckhafte Armheben einer Marionette. Etwas... geschah. Mit ihm.
Titchs Gesicht verfinsterte sich. »Zum Teufel, Skar, was -«
»Nichts«, unterbrach ihn Skar. »Ich war nur einen Moment... verwirrt.«
Titchs Gesichtsausdruck machte sehr deutlich, was er von dieser Antwort hielt. Für die Dauer eines kurzen Atemzuges war Skar sicher, daß er ihn zurückschicken würde. Aber der Moment verging, ohne daß Titch etwas sagte, und schließlich drehte sich Skar demonstrativ um und ging weiter; so schnell, daß sich plötzlich Titch anstrengen mußte, um mit ihm Schritt zu halten. »Es war wirklich so«, sagte er noch einmal - und mehr, um sich selbst zu beruhigen, als den Quorrl. »Beeilen wir uns lieber. Wir haben nicht mehr viel Zeit.«
Sie verließen das Plateau und gingen noch ein Stück weit den gewundenen Saumpfad hinauf, blieben dann aber wieder stehen, als Titch den Arm hob und nach links deutete. Skar strengte sich an, um in der Dunkelheit irgend etwas sehen zu können, das mehr als Schwärze und noch dunklere Schatten war. Nach einer Weile glaubte er, so etwas wie einen Riß im Berg wahrzunehmen, einen dreieckigen, niedrigen Spalt, der schon für einen Mann seiner Statur schmal schien. Wie Titch sich hindurchzwängen wollte, war ihm ein Rätsel.
Aber er tat es. Mit einer Geschicklichkeit, die selbst Skar dem Quorrl nicht zugetraut hätte, schlängelte und drängte sich Titch so lange hin und her, bis seine Gestalt nach und nach im Berg verschwand. Skar stand dabei und sah ihm zu, und allein das Bild erfüllte ihn schon wieder mit Furcht; einem an Panik grenzenden Grauen, das er nur noch mühsam unter Kontrolle halten konnte. Seine Phantasie, einmal außer Rand und Band geraten, gaukelte ihm ein anderes Bild vor: für ihn sah es aus, als verschlage der Berg den Quorrl, aus dem Riß im Felsen wurde ein dreieckiges steinernes Drachenmaul, in dem sich Titchs Gestalt unter unerträglichen Qualen wand, während er tiefer und tiefer in den Schlund des Ungeheuers gesogen wurde. Ein Omen? Eine Warnung, diesen Ort nicht zu betreten, die er ernst nehmen sollte? Unsinn. Und doch ... Er hatte ein ähnliches Gefühl schon einmal gehabt, plötzlich erinnerte er sich wieder: auf Crons Hof. Er mußte aufwachen. Der Traum begann ihm zu entgleiten, der Träumer verlor die Kontrolle darüber, und der Geträumte drohte vom Spieler zum Regisseur zu werden. Er war zu lange in jener fremden, armen Welt gewesen, um - Skar ballte die Hand so heftig zur Faust, bis ihm der Schmerz die Tränen in die Augen trieb. Die fremden Gedanken und Bilder vergingen, aber das Gefühl blieb. Er durfte nicht in diesen Berg. Etwas Unvorstellbares würde geschehen, wenn er es tat, etwas, das tausendmal schlimmer war als das, was auf Crons Hof passiert war, etwas - Hör auf! dachte Skar. Ich weiß, daß du es bist! HÖR AUF! Er fuhr herum, starrte in die Dunkelheit und versuchte, die schlanke Gestalt seines höllischen Bruders zwischen den Felsen zu erkennen. Aber wenn er da war, so hielt er sich geschickt verborgen, ein Schatten zwischen den Klumpen geronnener Finsternis, in die die Nacht die Felsen verwandelt hatte. Nur seine Gedanken waren da, das tödliche Flüstern in Skars Kopf, und - Skar stöhnte. Wellen von wechselnder Kälte und Hitze durchfluteten seinen Körper. Seine Schläfen begannen zu pochen. Er hatte Schmerzen.
Du stirbst, Bruder. Betrete diesen Ort, und du stirbst. Er starrte den Daij-Djan an, der nun doch gekommen war, ein schlankes tödliches Nichts, vielleicht wirklich, vielleicht nur in seiner Vorstellung real, das blieb sich gleich, und es waren gerade seine Worte, gerade diese Warnung, von der Skar wußte, daß er besser daran täte, sie ernst zu nehmen, die ihn schließlich dazu brachten, sich herumzudrehen und Titch zu folgen.
Der Quorrl hatte sich mittlerweile völlig durch den Felsspalt gezwängt und winkte Skar ungeduldig, ihm zu folgen. Skar ließ sich ungeschickt auf Knie und Ellbogen sinken, zog die Schultern zusammen und begann in die Höhle zu kriechen. Scharfkantiges Felsgestein schrammte über seine Schultern und an seinem Rücken entlang, und er fragte sich erneut, wie um alles in der Welt Titch es geschafft hatte, seine Titanengestalt durch den schmalen Spalt zu zwängen.
Eine schuppige Hand griff nach ihm und zog ihn auf die Füße, kaum daß der Druck des Felsens auf seine Schultern verschwand. Halb von Titch gezogen, halb aus eigener Kraft, stand Skar auf und sah sich um.
Es war nicht dunkel, wie er erwartet hatte. Sie befanden sich am Eingang eines gewaltigen Felsendomes, dessen Wände und Decke zerborsten und von Rissen und Schrunden überzogen waren, der Skar aber trotzdem fast zu gleichmäßig und eben geformt vorkam, um natürlichen Ursprunges zu sein. Ein rötlicher Schein, der aus dem Nichts kam, erhellte die Luft. Auf dem Boden lagen unförmige rote und braune und schwarze Brocken, Felsen, die aus der Decke gebrochen waren. Und unweit des Einganges ein toter Quorrl.
Skar fuhr überrascht zusammen, als er die verkrümmte Gestalt sah. Der Blick, mit dem Titch ihn maß, verriet ihm, daß der Anblick des Leichnames für ihn keine Überraschung darstellte. Titch war schon einmal hiergewesen. Und er war offensichtlich weiter vorgedrungen, als er bisher zugegeben hatte.
Angewidert und fasziniert zugleich trat Skar näher und musterte den Leichnam.
Daß es ein Quorrl-Krieger gewesen war, erkannte er nur noch an der schuppigen Rüstung und dem gewaltigen Breitschwert, das eine der mumifizierten Krallenhände noch umklammerte. Der Körper mußte seit mindestens zehn Jahren hier liegen, dachte Skar. Fragend sah er Titch an, aber der Quorrl wandte sich rasch ab und ging weiter, so daß Skar ihm folgen mußte. Die Höhle war weitaus größer, als Skar angenommen hatte. Sie gingen gute zehn Minuten über den mit Trümmern übersäten Boden, ohne daß die jenseitige Wand auch nur einen Deut näher zu kommen schien, und sie fanden mehr tote Quorrl, mal einzeln, wie der Krieger am Höhleneingang, mal in ganzen Gruppen über- und nebeneinandergestürzt, und fast durchweg in dem gleichen fortgeschrittenen Stadium der Verwesung wie die erste Leiche.