Skar fror. Obwohl sie sich bereits tief im Inneren des Berges befinden mußten, war es hier drinnen merklich kälter als draußen. Ihr Atem zauberte kleine graue Wölkchen vor ihre Gesichter, wie Nebel, und ihre Schritte schlugen sonderbar widerhallende Echos aus dem zerborstenen Boden, und das Licht, dieses seltsame, fast unheimliche rote Licht, schien die Gestalt des vorausgehenden Quorrl zu umfließen wie leuchtendes Wasser.
Unwirklich, dachte Skar. Das war das Wort, nach dem er die ganze Zeit über gesucht hatte. Unwirklich. Nicht falsch oder fremdartig; es war, als bewegten sie sich Schritt für Schritt in eine Welt hinein, die sich von der ihren so völlig unterschied, daß es einfach keine Bezugspunkte mehr gab. Keine andere Welt, sondern eine andere Wirklichkeit, als gäbe es neben ihr noch eine andere Realität. Aber wenn es so war, dachte er, welche war dann die wirkliche Welt?
Skar spürte, wie sich seine Gedanken zu verwirren begannen, aber er fühlte auch, daß er diesmal nicht mehr genug Kraft hatte, den Teufelskreis zu durchbrechen, in den ihn Furcht und Todesnähe hineingeschleudert hatten. Er wankte. Sein Fuß stieß gegen einen kopfgroßen Stein und ließ ihn davonrollen, aber Titch sah nicht einmal auf, obwohl das Geräusch lang anhaltend und hundertfach gebrochen durch den unterirdischen Dom hallte. Wieder stießen sie auf Tote; Männer diesmal, die nicht so friedlich oder wenigstens schnell gestorben waren wie die, die sie bisher gefunden hatten. Obwohl ihre Körper fast bis zur Unkenntlichkeit mumifiziert waren; papierdünne, eingeschrumpfte Karikaturen der kraftstrotzenden Geschöpfe, die sie einmal gewesen waren, sah Skar noch immer die Spuren unerträglicher Pein auf den ausgezehrten Gesichtern. Ihre Glieder waren verkrümmt; manche gebrochen, und Skar sah einen Quorrl, dessen Kehle von seiner eigenen Hand aufgerissen war.
»Was ist hier passiert?« fragte er.
Titch antwortete nicht, und als Skar hochblickte, sah er, daß der Quorrl einfach weitergegangen war. Verärgert lief er ihm nach, holte ihn ein und zog ihn grob am Arm herum.
»Warum antwortest du nicht?« fragte er. »Du -«
Skar verstummte abrupt, als er in Titchs Gesicht blickte. Der Quorrl wirkte eindeutig erschrocken; aber auch verwirrt. Ohne daß Titch auch nur ein Wort sagen mußte, wußte Skar, daß er seine Frage gar nicht verstanden hatte.
»Entschuldige«, sagte er, während er Titchs Arm losließ. »Entschuldige - was?« Titch blickte auf seine Hand herab, als hätte Skar sie beschmutzt, mit seiner groben Berührung. Dann starrte er Skar an. »Ich glaube nicht, daß du -«
Skar trat einen halben Schritt zur Seite, und Titchs Worte verstummten. Die Lippen des Quorrl bewegten sich weiter, aber Skar hörte nichts mehr, und nach ein paar weiteren Sekunden brach Titch ab und blickte ihn mit einer Mischung aus Schrecken und Ärger an.
Skar schauderte. Er kannte diesen unheimlichen Effekt, diese böse Magie der Laute, die gesprochene Worte nur noch dann hörbar bleiben ließ, wenn sich Sprecher und Angesprochener direkt ansahen. Er hatte ihn bereits zweimal erlebt.
»Ich habe gefragt, was das hier ist«, sagte er, nachdem er sich wieder so postiert hatte, daß Titch seine Worte hören konnte. Er machte eine weit ausholende Geste. »Die Toten - das waren deine Männer.«
»Und?« fragte Titch.
Skar verstand. Titch wollte nicht darüber reden. Und er respektierte dies. Zumindest im Moment.
Er wollte weitergehen, aber jetzt hielt ihn Titch am Arm zurück. Er sagte etwas, was Skar nicht verstand. Skar riß seinen Arm los und drehte den Kopf, und Titch wiederholte seine Frage: »Dieses... Schweigen, Skar. Du weißt, was es bedeutet.«
»Stimmt«, antwortete Skar und ging weiter. Titch starrte ihn sekundenlang beinahe feindselig an, zuckte dann in einer bedrückend menschlichen, trotzig-resignierenden Geste die Achseln und folgte ihm.
Aber Skars Antwort war nicht nur eine billige Retourkutsche. Er wußte, was dieser unheimliche... Wortzauber zu bedeuten hatte, und gleichzeitig wußte er es nicht. Er wußte nicht, was ihn bewirkte, und noch viel weniger, wozu er gut sein mochte. Was er wußte war, wieso sie ihn fühlten. Es gab nur diese eine Erklärung: Caran, was immer sich hinter diesem Wort verbergen mochte, war ein Ort der Alten.
Lange Zeit gingen sie einfach schweigend nebeneinander her. Skar fiel auf, daß Titch immer nervöser wurde, auch wenn der Quorrl sich alle Mühe gab, äußerlich gelassen zu erscheinen. Und auch er selbst fühlte sich... unbehaglich, auf eine schwer greifbare Weise. Fast ohne daß er sich dessen bisher bewußt geworden wäre, hatte sich sein Körper ein wenig erholt: die Schmerzen waren auf ein erträgliches Maß zurückgegangen, und das Gehen fiel ihm beinahe leicht, als schöpfe er aus jedem Schritt Kraft, statt daß es umgekehrt war. Vielleicht war es wirklich Titchs Berührung gewesen, die ihm ein wenig von seiner alten Stärke zurückgegeben hatte, vielleicht war es auch dieser Ort, von dem er ein Teil war, der ihm neue Kraft einflößte. Und gleichzeitig fühlte er immer stärker, daß er nicht hier sein sollte. Die Warnung des Daij-Djan war ernst gemeint gewesen. Und ehrlich. Nach einer Weile begann der Boden vor ihnen sanft anzusteigen, und schließlich - waren es Minuten, oder wirklich Stunden gewesen, wie Skar sich einbildete? - näherten sie sich dem jenseitigen Rand des Felsendomes. Der Boden wurde steiler, und die Risse, die ihn durchzogen, breiter. Titch gab ihm mit einer Geste zu verstehen, daß er zurückbleiben sollte, und Skar gehorchte, wenn auch nicht ganz. Statt stehenzubleiben, verlangsamte er nur seine Schritte, so daß der Abstand zwischen Titch und ihm allmählich größer wurde.
Der Quorrl war vielleicht zwanzig Meter von ihm entfernt, als er die Wand erreichte und stehenblieb. Auch Skar verhielt mitten im Schritt. Seine Hand sank auf das Schwert herab und fingerte nervös am Griff der nutzlosen Waffe. Titch tat etwas an der Wand, was er nicht erkennen konnte; wahrscheinlich suchte er nach einem Durchgang, einer verborgenen Tür oder einer weiteren, getarnten Spalte.
Skar besah sich die Felswand genauer. So weit er sie in dem düsterroten Schein überhaupt erkennen konnte, schien sie so zerrissen und schrundig wie das ganze Innere dieses unheimlichen Berges. Es gab handbreite, klaffende Spalten, die wie erstarrte schwarze Blitze durch den Fels liefen und ihn in ein Mosaik aus Millionen und Abermillionen unregelmäßiger Einzelteile zerrissen, aber auch große, wie in den Stein gebrannt wirkende Löcher, in deren Tiefe es hier und da funkelte; Kristall- oder Erzeinschlüsse, wie Skar vermutete. Aber keine dieser gewaltsam oder einfach von der Zeit geschaffenen Lücken war auch nur annähernd groß genug, Titch oder ihn hindurchzulassen. Schließlich trat Skar neben den Quorrl und tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die Schulter, damit er den Kopf wandte und seine Worte verstand.
»Was tust du?« fragte er.
Statt zu antworten, streifte Titch seine Hand ab und wandte sich wieder der Felswand zu. Seine Finger glitten scharrend über den Fels, tasteten hierhin und dorthin, drückten auf Vorsprünge und in Vertiefungen - Skar verstand, auch ohne daß Titch antworten mußte. Der Quorrl suchte nach einem geheimen Mechanismus, der einen Durchgang in dieser massiv erscheinenden Felswand öffnete.
»Woher weißt du, wo der Eingang ist?« fragte er. Die Höhle war gewaltig.
»Weil Cron es mir verraten hat«, antwortete Titch.
Und weil du schon einmal hier warst, fügte Skar in Gedanken hinzu. Und ihn schon einmal gefunden hast. Aber er sprach es nicht laut aus, sondern sah schweigend zu, wie Titch die rotbraune Wand vor sich Handbreit um Handbreit abtastete, mit fast geschlossenen Augen und so konzentriert, wie Skar den Quorrl noch niemals zuvor erlebt hatte.