Plötzlich erstarrte Titch. Auf seinen Zügen erschien ein Ausdruck, der beinahe an Angst grenzte. Seine Hand hatte irgend etwas in einer der Spalten ertastet. Skar sah, wie sein Arm sich vor Anstrengung spannte. Aber irgend etwas sagte ihm, daß Titch keine Kraft brauchte, um den Hebel oder was immer er gefunden hatte, zu betätigen.
Titch sah hoch. In seinen dunklen Tieraugen loderte eine Angst, die Skar einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. »Du kannst... es dir noch überlegen«, sagte er stockend. »Was?«
Titch machte eine Kopfbewegung in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Du kannst noch gehen, Satai. Ich gebe dir Zeit, den Berg zu verlassen.« Wovor hatte Titch Angst? Er antwortete nicht, und der Quorrl wertete sein Schweigen als das, was es war. Sein Arm spannte sich mit einem kurzen, heftigen Ruck, und aus der Wand vor ihnen antwortete ein ebenso kurzes, hartmetallisches Geräusch auf die Bewegung; wie ein Peitschenhieb, nur lauter, und der Hieb einer Peitsche aus Stahl.
Titch sprang zurück. Jeder Muskel in seinem gewaltigen Körper war gespannt. Sein Blick irrte fast gehetzt hin und her, tastete über den zerrissenen Fels, flackerte. Seine Finger bewegten sich, schlossen sich zu Krallen und öffneten sich wieder; schnell und mehrmals hintereinander und mit einer Kraft, die seine Schuppen knistern ließ wie trockenes Papier. Der Quorrl war halb wahnsinnig vor Angst.
»Was -?« begann Skar.
Titch hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Und im gleichen Moment, wie zur Antwort auf seine Bewegung, klappte ein Teil der Felswand wie ein Paar steinerner Insektenflügel zur Seite.
Skar erstarrte.
Er hatte einen Durchgang erwartet, ein Tor, das sich öffnete, vielleicht auch einfach nur ein Loch im Boden, aber ein Teil der Felswand vor ihnen, den Titchs Tasten aus seinem vielleicht jahrelangen Schlaf geweckt hatte, war nicht größer als der Deckel einer kleinen Seekiste.
Und dahinter loderte die Hölle.
Skar starrte in ein rubinrotes, flackerndes Auge aus Glas oder Kristall, in dessen Tiefe ein düsteres Feuer brannte. Ein unheimlicher Hauch wehte ihm entgegen, etwas, was vielmehr seine Seele als seinen Körper streifte und ihn schaudern ließ; ein fast körperliches Empfinden von Gefahr, eine Drohung von so unvorstellbarer Natur, daß sich sein Verstand einfach weigerte, sie zu begreifen. Er wußte nur eines, aber das mit absoluter Gewißheit: daß er etwas gegenüberstand, das schlimmer, tausendfach schlimmer als der Tod war.
Das Licht im Inneren des Teufelsauges begann zu pulsieren; zuerst langsam, wie im Rhythmus eines gewaltigen bösen Herzens, dann immer schneller und schneller, wobei es allmählich an Leuchtkraft zunahm.
Und dann ertönte die Stimme.
Skar fuhr zusammen wie unter einem Hieb. Er verstand die Worte nicht, die plötzlich aus dem Nichts auf Titch und ihn einhämmerten, denn es waren Worte (Laute, entsetzliche, grauen-erregende Laute) einer Sprache, die vor einer Million Jahre untergegangen war, zusammen mit den Wesen, die sie sprachen. Aber allein ihr bloßer Klang ließ ihn sich krümmen wie unter Schmerzen, denn es waren Worte, die die gleiche fürchterliche Drohung enthielten wie das rote Licht und das Feuer im Inneren des Höllenauges.
Und dann hörte er, wie Titch antwortete.
Es war nur ein Wort. Ein kurzer, bellender Laut, der Skar die Stimmbänder zerrissen hätte, hätte er auch nur versucht, ihn auszusprechen, und der ihn für die gleiche Zeitspanne, die er brauchte, um ihn hervorzubringen, in etwas unsagbar Fremdes, Fürchterliches verwandelte.
Der Quorrl taumelte. Langsam, als kämpfe er gegen einen unsichtbaren Widerstand an, sank er auf die Knie, hob die Hände vor das Gesicht und verbarg seine Augen vor dem lodernden, bösen Licht, mit dem das Dämonenauge in der Wand sie überschüttete.
Das rote Pulsieren verlor ganz allmählich an Heftigkeit. Das Auge starrte sie noch immer an, und in seinem Licht war noch immer die gleiche, fürchterliche Drohung, aber sein Flackern wurde allmählich langsamer. Und dann, ebenso langsam und lautlos, wie sie sich geöffnet hatten, schlossen sich die steinernen Käferflügel in der Wand wieder. Die Stille, die folgte, war beinahe schlimmer als alles andere zuvor. Und es dauerte lange, sehr lange, bis Skar die Kraft fand, sich an Titch zu wenden und die Hand zu heben, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.
Das Gesicht des Quorrl war grau vor Anstrengung und Furcht, als er den Kopf wandte und ihn ansah. Skar suchte vergeblich nach Erleichterung in seinem Blick. Die Furcht war aus seinen Augen verschwunden - aber das Entsetzen war geblieben. »Und ... jetzt?« fragte er zögernd.
Titch wollte antworten, aber er kam nicht dazu. Ein dunkles, mahlendes Geräusch erscholl, und direkt hinter dem Quorrl spaltete sich der Fels; diesmal auf mehr als Manneslänge. Fassungslos und alarmiert zugleich beobachtete Skar, wie der Spalt breiter wurde, als sich der scheinbar massive Stein teilte. Ein Spalt entstand, wurde zu einer erst hand-, dann armbreiten Öffnung und schließlich zu einer quadratischen, gut zwei Meter messenden Öffnung, hinter der der Beginn eines halbrunden Stollens zu sehen war, der tiefer in den Berg hineinführte. Dasselbe rote Licht, das auch den Felsendom erhellte, füllte auch ihn aus. Trotzdem konnten sie nur wenige Schritte weit sehen, denn die Luft war seltsam unklar; als hinge Nebel oder feiner Staub in ihr, dachte Skar.
Titch machte eine abwehrende Geste, als Skar den Stollen betreten wollte. »Nein.«
Skar war fast erleichtert. Sie waren hierhergekommen, um diesen Stollen zu finden. Und trotzdem erfüllte ihn die bloße Vorstellung, ihn zu betreten, mit Furcht.
»Wir warten.« Titch atmete so schwer und tief ein, daß es sich fast wie ein Keuchen anhörte. Das Sprechen schien seine ganze Kraft zu erfordern. »Ich weiß nicht, was weiter geschieht. Cron hat es mir nicht gesagt.«
»Und vorher...«
»Ich wußte es nicht«, murmelte Titch. Er sah weiter in Skars Richtung, damit er seine Worte verstand, aber sein Blick war leer; ins Nirgendwo gerichtet. Und gleichzeitig direkt in die Hölle. Seine Hände zitterten. »Ich wußte das geheime Wort nicht. Keiner von uns wußte es.«
Das geheime Wort...
Skar verstand erst jetzt wirklich, was mit diesem so täuschend harmlosen Begriff gemeint gewesen war. Keine Parole, wie er angenommen hatte, nichts, was Titch oder er irgendeinem Wächter sagte, damit ihnen Durchlaß gewährt wurde. Das geheime Wort, das euch den Weg in die Höhlen von Caran öffnet... Es war unvorstellbar. Allein die Vorstellung erschütterte Skar bis ins Innerste. Es war der Berg selbst, der ihnen Einlaß gewährte oder nicht. Nicht die, die in ihm lebten. Er starrte den Tunnel hinter dem getarnten Tor an, und wieder erfüllte ihn sein bloßer Anblick mit Grauen.
»Keiner von uns wußte es«, sagte Titch noch einmal. Etwas in seiner Stimme ließ Skar aufhorchen; ein Klang, ein Zittern, das vorher nicht darin gewesen war, etwas Neues, das er noch nie an dem Quorrl gehört hatte. Er sprach, aber er sprach nicht mit Skar. Er sprach zu ihm, aber nicht, um ihm etwas zu erzählen, sondern nur, um zu reden, und mit ihm nur aus dem einzigen Grund, weil es leichter war, mit einem Zuhörer zu sprechen als mit einem Stein.
»Keiner wußte es«, sagte er noch einmal. Es klang wie ein Schrei. »Wir... wußten nicht einmal, daß es existiert. Niemand war hiergewesen, vor uns.« Er hob in einer hilflosen Bewegung die Hände und starrte Skar an, und wieder war in seinen Augen dieses unbeschreibliche Entsetzen, das Skar verriet, daß er nicht ihn sah, sondern in seine eigene, ganz private Hölle blickte; die Hölle der Erinnerungen, die er seit jenem entsetzlichen Tag mit sich trug und der er niemals ganz würde entkommen können. »Wir waren fünfhundert, Satai. Die Besten. Nicht viele, aber ein Heer, wie dieses Land noch keines gesehen hat. Ich habe jeden einzelnen Mann selbst ausgesucht. Viele von ihnen waren meine Freunde.«