»Weil sie uns angst machen«, sagte Rowl. »Sie schützen uns, aber wir bezahlen einen hohen Preis für diesen Schutz. Höher, als sich die anderen dort draußen vorstellen können. Und es gibt Dinge in diesen Höhlen, die ...« Er unterbrach sich, schwieg eine Sekunde und wechselte abrupt das Thema.
»Dieser Turm, in dem ihr auf den Ssirhaa gestoßen seid, Skar - war er wie dieser?«
Skar wollte antworten, aber plötzlich wurde ihm klar, daß er die Antwort nicht wußte. Er hatte darüber nachgedacht, von dem Moment an, in dem ihm klargeworden war, was Caran wirklich war, aber nicht sehr lange und nicht sehr intensiv. Es war, als hätte ihn etwas daran gehindert, länger als einen Augenblick über diese Frage nachzudenken.
Er wußte sogar, warum dies so war. Sich mit diesem absurden Titanengebilde zu beschäftigen, hieße, seinem bösen Flüstern Einlaß in seine Gedanken zu gewähren. Jetzt mußte er es. Sein Blick glitt über die bizarre, zum größten Teil unverständliche Einrichtung, die zu groß für einen Menschen und gerade eine Spur zu klein für quorrlsche Bewohner war, tastete über den Boden, rostig und rot wie alles hier drinnen, aber von Millionen von Füßen so glatt wie ein Spiegel poliert, die Wände mit ihren sonderbar geformten Türen und den Dingen, die darin eingelassen waren: an zwei der vier Wände befanden sich matte Spiegel von rechteckiger Form und mehr als Manneslänge, die meisten blind geworden, einige zerbrochen, so daß sein Blick in dunkle Höhlen dahinter fiel, in denen es unheilvoll glitzerte, und andere, völlig fremdartige Dinge, die an und in den Wänden aus zusammengebackenem Rost befestigt waren. Von vielen waren nur noch Umrisse zu gewähren: rechteckig oder rund, manche auch von Formen, die einfach zu bizarr waren, um sie zu beschreiben, aber eindeutig geschaffen, nicht durch Zufall entstanden. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Nein. Caran ist... anders.« Schlimmer, fügte er in Gedanken hinzu. Trotz allem hatte er in Ennarts Turm im Drachenland noch Vertrautes entdecken können: Türen, die auch wie Türen aussahen, auch wenn sich die Räume dahinter von Etage zu Etage bewegten und für Riesen gemacht zu sein schienen, Möbel, die nicht aus dem Boden wuchsen und wie gestaltgewordene Fieberphantasien aussahen, und Fenster, durch die man nach draußen sehen konnte. Seine Antwort schien Rowl zu erleichtern. Trotzdem zitterte seine Stimme noch immer, als er weitersprach.
»Ich versuche oft, mir vorzustellen, was für ein Volk es wohl gewesen sein mag, das solche Macht hatte. Aber ich kann es nicht.«
»Niemand kann das«, sagte Skar.
Rowl sah ihn auf eine Art an, die Skar schaudern ließ. Aber er ging nicht auf seine Antwort ein, sondern fuhr mit leiser, beinahe abwesender Stimme fort: »Ich denke darüber nach, seit ich das erste Mal herkam. Ich frage mich, welche Welt es gewesen sein mag, in der Wesen von solcher Macht gelebt haben. Manchmal träume ich davon. Und manchmal träume ich, daß sie wiederkommen. Daß sie jemanden schicken, ihr Eigentum zurückzufordern.« Er legte eine winzige Pause ein. »Bist du dieser Mann, Satai?«
Skar erschrak. War es so leicht, seine Gedanken zu lesen? »Nein«, sagte er. Unsicher und mit einem nur halb geglückten Lächeln fügte er hinzu: »Wie kommst du auf diese Idee?« Statt direkt zu antworten, ging Rowl zu einer der Seitenwände und winkte ihm, nachzukommen. Skar setzte sich zögernd in Bewegung, blieb aber in sicherem Abstand zu dem Quorrl stehen.
»Gib acht, Satai«, sagte Rowl. »Ich will dir etwas zeigen.« Seine Hand berührte eine Vertiefung auf einer der metallenen Truhen, die die Wände flankierten, und plötzlich glomm inmitten des rostroten Chaos unter seinen Fingern ein winziges, rotes Auge auf. Skar fuhr überrascht zusammen. Aber das war es nicht, was Rowl ihm zeigen wollte. Seine Hand wies auf eine Stelle hinter Skars Rücken. Er nickte auffordernd, während sein Blick wie gebannt an Skars Gesicht hing.
Skar drehte sich herum und sah in die angegebene Richtung - und schrie überrascht auf.
Einer der großen, blinden Spiegel war nicht mehr blind.
Es war auch kein Spiegel mehr.
Statt rostrotem Widerschein und flackernden Lichtreflexen zeigte die gläserne Fläche ein naturgetreues Bild der Felsebene vor dem Eingang Carans, und nicht nur das: auf dem Plateau am Ende des Saumpfades waren Titchs Quorrl zu erkennen, eine quirlende grüngraue Masse, die sich bewegte!
Skar keuchte. »Aber das ist -«
»Zwei der kleineren Spiegel haben das schon immer getan«, sagte Rowl hinter ihm. »Sie sind der Grund, aus dem es nie jemandem gelungen ist, uns zu überraschen, Satai. Du kannst alles auf ihnen sehen, was im Umkreis von fünf Meilen geschieht. Und manchmal andere Dinge, die wir nicht verstehen.«
Skar hörte kaum hin. Sein Blick hing wie gebannt an dem sich bewegenden Bild. Er redete sich ein, daß dies nichts als ein weiterer Trick der Sternengeborenen war, ein weiteres Vermächtnis ihrer ungeheuerlichen Macht und ihres unvorstellbaren Könnens, aber das nutzte nichts. Der Anblick erschlug ihn fast. Er glich nichts, was er jemals gesehen hatte; nichts, was er sich jemals vorgestellt hatte. Ein Bild, das sich bewegte, war... war unmöglich.
Unsicher trat er näher, brachte es aber nach ein paar Schritten einfach nicht fertig, weiter zu gehen, und blieb wieder stehen. Sein Blick saugte sich an der leicht nach außen gekrümmten Scheibe und den daumennagelgroßen Quorrl-Gestalten darauf fest. Wenn er aufmerksam genug hinsah, konnte er sogar die Wolken erkennen, die über den Himmel zogen.
»Was ... was ist das?« fragte er stockend.
»Nur eines von vielen Geheimnissen, die Caran birgt«, antwortete Rowl. Er trat neben Skar und blickte abwechselnd ihn und die auf Spielzeuggröße zusammengeschrumpfte Quorrl-Armee auf dem Spiegel an. »Etwas, das so alt ist wie Caran. Ein Vermächtnis der Wesen, von denen du behauptest, sie wären keine Götter, Satai. Was draußen geschieht, siehst du hier, obwohl eine halbe Meile Stahl zwischen uns und ihnen ist. Wir werden auch das Heer aus Ninga rechtzeitig sehen, auf einem der anderen Zauberspiegel.«
»Ich glaube nicht an Zauberei«, sagte Skar. Es war fast nur ein Reflex; ein Satz, den er einfach ein paarmal zu oft gesagt hatte, bei ähnlichen - wenn auch weniger dramatischen - Begebenheiten wie jetzt, als daß er ihn zurückhalten konnte.
Rowl lächelte. »Ich auch nicht«, sagte er. »Aber das Wort ist so gut wie jedes andere.«
»Und du sagst, es gibt... noch mehr davon?« murmelte Skar. Er wollte Rowl ansehen, aber er konnte es nicht. Der Spiegel hielt seinen Blick gefangen. Es war ihm unmöglich, wegzusehen. Rowls Nicken bemerkte er nur aus den Augenwinkeln.
»Drei«, antwortete Rowl. »Zwei von ihnen haben das schon immer getan. Dieser da erst seit wenigen Monaten.« Er seufzte. »Das ist es, was mir angst macht, Satai.«
»Seit... wenigen Monaten?« Skar erschrak; so heftig, als wüßte er, was Rowls Worte bedeuteten. Etwas in ihm wußte es. »Seit zwei Monaten - vielleicht schon länger, aber vor zwei Monaten habe ich es bemerkt. Und das ist nicht alles, Satai. Es gibt... andere Dinge, die plötzlich erwachen. Räume, die ewig im Dunkel lagen, sind wieder hell erleuchtet, und manchmal hört man... Geräusche.« Plötzlich war die Furcht wieder in seiner Stimme. »Manchmal gehe ich hinunter, Satai, in die Katakomben unter dem Berg, und ich habe Dinge dort gesehen, die... fürchterlich waren. Caran erwacht, Satai. Er hat geschlafen, vielleicht seit dem Tag, an dem seine Erbauer weggegangen sind, aber er erwacht wieder. Jemand... hat ihn geweckt.« Du? fügte sein Blick hinzu.
»Dann solltet ihr... nicht mehr hierbleiben«, sagte Skar mühsam. Es fiel ihm schwer, zu sprechen; nicht die Tätigkeit des Redens selbst, sondern das Formulieren der Worte. Nicht nur sein Blick, auch sein Geist war gelähmt von dem, was er sah. Der Anblick des magischen Spiegels füllte ihn so vollkommen aus, daß in seinem Kopf einfach kein Platz für irgendeinen anderen Gedanken war.