»Das bin ich nicht«, sagte er, als weder Kiina noch Titch auf seinen Einwurf antwortete, der ihm im übrigen bereits selbst schon wieder leid tat. Er zögerte einen Moment, dann erzählte er, was Rowl ihm über Carans unheimliche Macht berichtet hatte. »Was für ein Unsinn!« schnappte Kiina, kaum daß er zu Ende geredet hatte. »Und das glaubst du?«
»Warum nicht?«
»Warum nicht, warum nicht!« äffte Kiina seine Stimme nach; aus dem sanften Spott in seinen Worten wurde dabei böser Hohn. »Weil ich die Tochter einer Errish bin, Skar, darum nicht! Und weil ich alles weiß, was es über die Krankheiten eines menschlichen Körpers zu wissen gibt. Meine Mutter hat mich vielleicht nicht alles gelehrt, aber sie hat mir beigebracht, den Tod zu erkennen, wenn ich ihn sehe.« Sie machte eine herrische Geste, als Skar sie unterbrechen wollte. »So etwas ist unmöglich. Es hieße, die Zeit anzuhalten. Er sagt das nur, um dich zu beruhigen und zum Bleiben zu bewegen. Wir müssen weg hier, Skar!« Sie deutete heftig auf Titch. »Titch und ich haben bereits einen Plan.« Skar sah den Quorrl an und las in seinem Blick, daß sie keinen Plan hatten. Keinen, der Erfolg haben konnte. Der Quorrl hatte die Ausweglosigkeit ihrer Situation längst erkannt. Caran war nicht nur eine Festung, es war auch eine Falle, wie es keine zweite auf dieser Welt gab. Wenn er mit Kiina über irgendwelche Fluchtpläne gesprochen hatte, dann nur, um sie zu beruhigen; ihr etwas zu geben, worüber sie nachdenken konnte, ehe sie ins Grübeln geriet und vielleicht erkannte, wie gering ihre Chancen wirklich waren.
»Es ... könnte stimmen«, sagte Titch plötzlich.
Kiina richtete sich kerzengerade auf und starrte ihn an. »Was?«
»Es gibt... Geschichten«, antwortete Titch unsicher. »Manche behaupten, daß sie unverletzlich sind. Es gab... Gerüchte. Gerüchte von Bastarden, die mehr als hundert Jahre alt sein sollen. Aber es sind nur Gerüchte«, fügte er betont und an Skar gewandt hinzu.
Skar antwortete nicht, sondern betrachtete seine rechte Hand. Die Haut war grau geworden und rissig und erinnerte mehr an zwanzig Jahre altes Pergament als an menschliche Haut, und wenn er versuchte, sie zu bewegen, kostete es ihn Mühe; tat manchmal sogar weh. Er hatte lange nicht mehr über sich selbst nachgedacht, aber das bedeutete nicht, daß es ihm besser ging. Vielleicht hatte er sich schon so sehr daran gewöhnt, sich schlecht zu fühlen, daß es ihm höchstens aufgefallen wäre, wenn es ihm plötzlich besser gegangen wäre. Aber Rowl hatte nicht behauptet, daß Caran Krankheiten heilte. Trotzdem behauptete er: »Ich fühle mich bereits besser.«
Kiina verzog verächtlich die Lippen. »O ja, das sieht man dir direkt an, Skar. Soll ich dir einen Spiegel bringen, du verdammter Idiot?«
Ihre Wut war nur Furcht. Sie hatte Angst; Angst vor Rowl, Angst vor diesem vermeintlichen Berg und vor allem Angst um ihn. Skar, der den Gedanken an seinen eigenen Tod längst akzeptiet hatte und den Moment nur noch hinauszögerte, weil es vorher noch etwas zu tun galt, nicht weil er Angst davor hatte, vergaß manchmal, daß nicht jeder so gelassen über sein eigenes Ende nachzudenken vermochte wie er.
»Vielleicht glaube ich es auch nur«, sagte er. »Spielt das eine Rolle?«
»Noch nicht«, sagte Kiina wütend. »Aber bald. Morgen oder in drei Tagen.«
»Dann warten wir bis morgen oder in drei Tagen«, antwortete er. »Wir haben sowieso keine andere Wahl - nicht wahr, Titch? Oder hast du wirklich einen Plan, wie wir hier herauskommen?« Titch sah weg.
17.
Aber es dauerte keine drei Tage, sondern nur eine Nacht und ein paar Stunden. Sie hatten nicht mehr lange geredet; danach. Titch hatte sich nach einer Weile unter einem fadenscheinigen Vorwand zurückgezogen, und als er gegangen und Skar mit Kiina allein war, spürte er plötzlich, wie sehr ihn die Ereignisse der vergangenen Tage angestrengt hatten. Die Zeit auf Crons Hof und die Pflege der alten Quorrl hatten seine Kräfte ein wenig regeneriert, aber schon der Ritt nach Caran hatte diese neugewonnene Stärke wieder aufgebraucht. Und alles, was danach gekommen war, zehrte von seiner Substanz; dem letzten bißchen Lebenskraft, das noch in ihm brannte - ein Vorrat für drei Tage, allerhöchstens vier oder fünf, wenn er Scrat glauben konnte.
Er schickte Kiina fort und streckte sich auf dem unbequemen Bett aus Metall und zerschlissenen Decken aus, und trotz allem fiel er fast sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf, aus dem er erst am nächsten Morgen erwachen sollte.
Dem Morgen des Tages, an dem alles zu Ende ging.
18.
Er erwachte, und er wußte, daß es früher Morgen war. Es gab hier drinnen keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht; das düsterrote Licht aus dem Nirgendwo leuchtete ununterbrochen, und auch die Bastarde schienen ihren eigenen Lebensrhythmus gefunden zu haben, der mit dem der Welt draußen nicht mehr viel gemein hatte. Aber seine innere Uhr arbeitete jetzt wieder so präzise und verläßlich wie früher, und als er die Augen aufschlug und die Beine von seinem unbequemen Nachtlager schwang, wußte er, daß jetzt auch draußen über den Bergen die Sonne aufging.
Und noch etwas hatte sich verändert: Skar fühlte sich besser. Es war keine Einbildung; auch nicht der berühmte Glaube, der Berge versetzen und sogar Krankheiten heilen konnte, wenn er nur fest genug war - es war eine spürbare Besserung. Sein Rücken schmerzte und fühlte sich taub an, aber das lag nur an dem unbequemen Bett, auf dem er geschlafen hatte. Zum ersten Mal seit Wochen erwachte er nicht mit Übelkeit und quälendem Durst in der Kehle, und zum ersten Mal seit ebenso langer Zeit kostete es ihn kaum Mühe, aufzustehen und sich anzukleiden. Und wie lange es her war, daß er sich - wie jetzt - frisch und wirklich ausgeruht vom Schlaf erhoben hatte, wußte er schon gar nicht mehr zu sagen.
Als er sein Zimmer verlassen wollte, fiel sein Blick auf den rechteckigen blinden Spiegel, der neben der Tür in die Wand eingelassen war (Skar wußte, daß es alles andere als ein Spiegel war, aber solange seine unheimliche Macht nicht erwachte, erfüllte das mattrosa Glas diesen Zweck hervorragend), und was er sah, ließ ihn mitten im Schritt stocken und sein Spiegelbild betrachten. Es war ein Anblick, der ihn zugleich entsetzte und mit einer fast verzweifelten Hoffnung erfüllte.
Was ihn entsetzte, war sein eigenes Aussehen: er hatte mindestens dreißig Pfund an Gewicht verloren. Seine Wangen waren hohl und fleckig, graue Schatten, die sich auch auf seinem übrigen Gesicht, seinem Hals und den Armen fanden. Sein Zahnfleisch war zurückgegangen, so daß sein Lächeln etwas vom Grinsen eines Totenkopfes haben mußte, und er hatte in den letzten Tagen einen Großteil seiner Haare verloren, ohne es auch nur selbst zu merken: aus der beginnenden Stirnglatze, über die er sich seit zwanzig Jahren ärgerte, war Kahlheit geworden, die fast bis zum Scheitel hinaufreichte. Seine Augen waren tief in die Höhlen zurückgekrochen und mit dunklen Ringen unterlegt.
Und trotzdem: als er das letzte Mal bewußt in einen Spiegel gesehen hatte, war es schlimmer gewesen. Rowl hatte die Wahrheit gesagt. Caran schützte ihn. Die stählernen Mauern dieser uralten Ruine hielten selbst dem Ansturm des Todes stand.
Er hob die Hand und streckte zitternd die Finger nach seinem Spiegelbild aus. Das Gespenst im Spiegel vollzog die Bewegung getreulich nach, und Skar führte sie nicht zu Ende; seine Finger verharrten zitternd Millimeter über dem geborstenen Glas, als hätte er Angst, das Bild darin könne ebenso zerspringen, wenn er es berührte. Sah er es wirklich, oder wollte er es nur sehen? Und was war das da hinter ihm, dieser Schatten, klein und schlank und insektenhaft und - Skar schloß die Augen, ballte die Hand zur Faust und zwang sich, an nichts zu denken. Das Bild des Daij-Djan verschwand aus seinem Kopf, und als er die Augen wieder öffnete, war es auch aus dem Spiegel verschwunden. Alles, was er sah, war gerissenes Glas und sein eigenes Spiegelbild, das durch die Sprünge in der reflektierenden Fläche gleichsam in mehrere Teile zerschnitten schien, die nicht ganz genau aufeinanderpaßten. Skar blieb lange Zeit so stehen und betrachtete den grauen Totenkopf, der ihm aus der spiegelnden Fläche entgegengrinste. Er suchte nach neuen Zeichen des Todes, neuen Spuren, die vielleicht das Gegenteil dessen bewiesen, was ihm dieses Bild sagen wollte. Diese eine Nacht bewies nichts, dachte er. Es konnte Zufall sein; vielleicht nur ein letztes Aufflackern seiner schwindenden Kräfte, dem der endgültige Zusammenbruch folgte. Oder vielleicht doch nichts als die Kraft seiner eigenen Einbildung.