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Aber irgend etwas sagte ihm, daß es nicht so war.

Er beschloß, Kiina und Titch gegenüber zumindest vorerst nichts von dieser Veränderung zu erwähnen: Titch hätte es beunruhigt, und Kiina garantiert zu neuen bissigen Bemerkungen provoziert. Und er hatte weder Lust, Titchs Nervosität zu schüren, noch Kiinas Streitlust. Er lächelte seinem eigenen Spiegelbild zum Abschied zu - die Wirkung war so erschreckend, daß er sich fest vornahm, in Zukunft nicht mehr zu lächeln, wenn er nicht allein war - nahm seinen Mantel vom Stuhl und verließ die Kammer. Statt des schweren groben Quorrl-Mantels trug er jetzt wieder den schwarzen Umhang eines Hohen Satai; ein Kleidungsstück, das für die feuchte Kälte hier drinnen fast zu dünn war, ihm aber angemessen schien, um Rowl gegenüberzutreten. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er sich wieder als der, der er war: nicht einfach nur ein Satai, sondern der Herrscher der Satai. Nur das vertraute Gewicht des Tschekal an seiner Seite fehlte. Er würde Rowl bitten, ihm die Waffe zurückzugeben, sobald sie Caran verließen.

Der halbtote Herrscher über ein nicht mehr existierendes Volk, Bruder, flüsterte eine Stimme in seinen Gedanken. Hast du Dels Worte schon vergessen? ›Es gibt nicht mehr viele Satai. Vielleicht sind wir beiden die letzten, die überlebt haben.‹ Aber nicht einmal dieser Gedanke vermochte seine Hochstimmung zu zerstören. Und er hatte sich eingebildet, den Tod nicht zu fürchten? Lächerlich. Jetzt, als ihm eine neue Gnadenfrist geschenkt worden war, begriff er, daß er sich die ganze Zeit über selbst belogen hatte. Auch ein Satai war nicht vor der Angst gefeit.

Auch nicht davor, sich zu verlaufen.

Skar passierte die zweite Gangkreuzung, als ihm klar wurde, daß er nicht mehr genau wußte, wo er war. Er blieb stehen, sah sich um und drehte sich schließlich einmal um seine Achse. Sein Blick tastete die zerborstenen Wände ab, suchte nach etwas Vertrautem und fand nichts. Die halbrunden, von flüssigem rotem Licht erfüllten Gänge waren alle gleich; es gab nichts, woran er sich orientieren konnte. Bisher war das auch nicht nötig gewesen, denn Skar war niemals allein durch einen der Stollen gegangen. Aber Rowl hatte darauf verzichtet, eine Wache vor ihren Türen zu postieren, wohl, um ihnen zu beweisen, daß sie wirklich seine Gäste waren, und nicht seine Gefangenen - eine großmütige Geste, die Skar zum Verhängnis hätte werden können, hätte er seinen Irrtum nur ein wenig später bemerkt. Meilen über Meilen von Gängen, Satai. Und ich habe Dinge dort gesehen, die schrecklich waren.

Gottlob hatte er nicht den Fehler begangen, irgendwo abzubiegen. Er mußte einfach nur den Weg zurückgehen, den er gekommen war, um sein Quartier wiederzufinden. Schlimmstenfalls würde er zu Titch oder Kiina gehen und bei ihnen warten, bis Rowl jemanden schickte, um sie zu holen.

So weit die Theorie.

In der Praxis fand er auch sein eigenes Zimmer nicht wieder. Die Tür war verschwunden. Skar war vollkommen sicher, sie nicht hinter sich geschlossen zu haben, aber jetzt war sie fort, und schlimmer noch: er sah auch keine geschlossenen Türen mehr. Skar marschierte gute zehn Minuten - viel länger, als er zuvor gegangen war - in die entgegengesetzte Richtung, aber er sah nichts außer gekrümmten roten Gängen und den bizarren Mustern, die Rost und Verfall in den Stahl der Wände gefressen hatten.

Aber das war unmöglich! Er war nirgends abgebogen, hatte keine Tür geöffnet, keine Abzweigung gewählt...

Er blieb wieder stehen, drehte sich abermals herum und ging wieder in die entgegengesetzte Richtung. Diesmal zählte er seine Schritte, und als er bei tausend angekommen war, blieb er erneut stehen. Eine gute halbe Meile...

Hätte er nicht gewußt, daß es völlig unmöglich war, hätte er geschworen, sich in einem anderen Gang zu befinden als dem, in dem seine Unterkunft lag. Furcht mischte sich in seine Verwirrung. Was hatte Rowl gesagt? Es geschehen... Dinge. Dinge, die mir angst machen.

Er überlegte, abermals kehrt zu machen und den Weg noch einmal zurückzugehen, und vielleicht noch einmal und noch einmal, bis sich dieses unheimliche Rätsel irgendwie löste, und in Gedanken sah er sich schon wieder und wieder den Gang hinauf und hinab laufen, so lange, bis er entweder vor Erschöpfung zusammenbrach oder ihn ein Quorrl fand, der zufällig hier herunter kam. Die Vorstellung war so lächerlich, daß sie für einen Moment sogar seine Furcht vertrieb.

Aber wirklich nur für einen Moment.

Dann hörte er das Geräusch, ein Kratzen und Schleifen und Schaben wie von harten Krallen, die über den Boden fuhren, und als er sich herumdrehte und sah, was es verursachte, erstarrte er für eine Sekunde vor Entsetzen.

Hinter ihm kroch ein schwarzes mißgestaltetes Ding den Gang entlang, ein Monster wie eine übermannsgroße Spinne mit zu vielen Beinen und einem dreieckigen Insektenschädel, in dem ein einzelnes rotes Auge blitzte, das die Form eines Sehschlitzes in einem Helmvisier hatte. Skar starrte die unheimliche Kreatur fassungslos an und fragte sich, ob er all dies wirklich erlebte oder ob er träumte. Das Ding war größer als er, und seine schwarzen kantigen Beine - Skar zählte insgesamt vierzehn Stück - waren so weit gespannt, daß es den Gang fast auf voller Breite ausfüllte. Es bewegte sich nicht sehr rasch, kam aber dank seiner enormen Größe trotzdem bedrohlich schnell auf ihn zu, und seine Bewegungen waren sonderbar eckig und ruckhaft, als wäre es nicht lebendig, sondern nur eine Puppe. Aus dem vorderen Drittel seines Schädels wuchsen zwei handlange, aufwärts gekrümmte Sicheln, die sich im Takt seiner marschierenden Beine bewegten.

»Geh zur Seite, du Narr!« sagte eine Stimme hinter ihm. Skar gehorchte, ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken. Blitzartig wich er vor der stählernen Spinne zurück, preßte sich gegen die Wand und hielt instinktiv den Atem an, als das Ungeheuer näher kam. Der Blick des flimmernden roten Auges blieb starr geradeaus gerichtet. Obwohl das Ding ihn einfach sehen mußte, reagierte es nicht; weder auf seinen Anblick, noch auf seine Bewegung.

Als es an Skar vorüberging, sah er, daß es nicht lebte.

Sein Körper bestand aus unzähligen, ineinandergreifenden Ringen aus schwarzem Stahl, der sich an vielen Stellen schon mit der Krankheit Carans infiziert hatte: Rost. Dünne schwarze Drähte woben ein engmaschiges Netz um das hintere Drittel seines Leibes, und die scharrenden Geräusche, die Skar gehört hatte, wurden nicht von seinen Beinen verursacht, sondern von den eisernen Gelenken, die ihm diese spinnenhaften Bewegungen verliehen. Eines der Beine war beschädigt - es bewegte sich noch im Takt der anderen, aber viel ruckhafter, und aus einer zerbrochenen Stelle im mittleren Glied quoll ein Gewirr zerrissener Drähte, wie Adern und Nerven aus Eisen.

Als das Metalltier Skar fast passiert hatte, berührte das beschädigte Bein seine Hand. Der Stahl war kalt - so unglaublich kalt, daß Skar vor Schmerz aufschrie und Fetzen seiner Haut am Körper der Eisenspinne hängen blieben, als er die Hand zurückriß. Fluchend vor Schmerz taumelte er zurück und preßte die blutende Hand gegen den Leib. Sein Arm prickelte vor Kälte und war taub.