Das Metalltier marschierte indessen unberührt weiter. Skar erkannte eine schemenhafte Gestalt ein paar Schritte vor sich, die sich hastig in eine Nische in der Wand zurückzog.
Es dauerte mehrere Minuten, bis das Eisentier weit genug gelaufen war, daß Rowl sein Versteck verlassen und zu ihm kommen konnte. Auf dem Gesicht des Quorrl mischte sich Ärger mit Erleichterung, als er sah, daß Skar nicht schwer verletzt war.
»Was sollte das?« fauchte er zornig. »Wolltest du dich umbringen lassen? Wenn du lebensmüde bist, nimm ein Messer, das geht schneller und ist nicht so schmerzhaft!«
»Ich hatte keine Ahnung -«, begann Skar, wurde aber sofort wieder von Rowl unterbrochen: »Was, zum Teufel, tust du überhaupt hier?«
»Das erkläre ich dir, wenn du mir sagst, wo ich überhaupt bin«, antwortete Skar. »Ich wollte zu dir, und -«
»Zu mir?« Rowl zog eine Grimasse. Seine Hand deutete auf die Gangdecke, und sein Blick funkelte mißtrauisch. »Mein Quartier liegt oben, Satai. Wieso gehst du Treppen hinab, wenn du hinauf willst?«
»Treppen?« wiederholte Skar verständnislos. »Ich bin keine Treppen...« Er brach ab, blickte den Quorrl verwirrt an und rettete sich in ein Achselzucken. Es geschehen sonderbare Dinge hier, Satai. Dinge, die mir angst machen... »Ich muß mich wohl verlaufen haben«, sagte er. »Caran ist ziemlich groß. Vor allem für jemanden, der sich hier nicht auskennt.«
»Und ziemlich tödlich«, fügte Rowl finster hinzu. »Vor allem für jemanden, der zu neugierig ist.«
Skar war nicht sicher, wie diese Worte gemeint waren - ob als Drohung oder Warnung. Er versuchte auch nicht, es herauszufinden, sondern deutete auf das Metalltier, das schon fast im rötlichen Dunst des Ganges verschwunden war. »Was ist das?« Rowl zuckte unwillig mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Es gibt viele von ihnen hier unten. Niemand weiß, was sie sind. Sie waren schon hier, als wir kamen. Vielleicht von Anfang an.«
Skar schauderte. »Du meinst, sie gehören... hierher?« fragte er stockend. »Sie laufen (seit einer Million Jahren) die ganze Zeit hier herum?«
»Manche bewegen sich durch die Gänge, andere tun andere Dinge«, antwortete Rowl in einer Art, die Skar klar machte, wie wenig Lust er hatte, über dieses Thema zu reden. »Einige sehen aus wie das da, andere sind kleiner oder größer. Aber alle sind tödlich. Du stirbst, wenn du sie berührst, Satai. Du hast Glück gehabt.«
Skar blickte auf seine blutende Hand herab. Er dachte an die grausame Kälte, die er gefühlt hatte. Dabei hatte er die Spinnen nur flüchtig berührt; kaum mehr als ein Hauch. Und trotzdem hätte dieses flüchtige Streifen beinahe ausgereicht, ihn auch seine andere Hand verlieren zu lassen. »Es ist die Kälte, die sie nicht altern läßt«, sagte er unvermittelt.
Rowl starrte ihn an. »Was?«
»Die -« Skar brach ab und blickte verwirrt in das Gesicht des Quorrl hinauf. Was waren das für Worte? Er wußte, daß es so war, daß aus irgendeinem Grund Teile dieses unglaublichen Gebildes noch immer ihren Dienst taten, weil sie kalt waren, weil Kälte das Gegenteil von Wärme und Wärme Bewegung und damit Leben war, aber er vermochte nicht zu sagen, woher dieses Wissen kam. Es war einfach da; als hätte etwas in diesen rostroten Wänden einen verschütteten Teil seiner Erinnerungen zum Leben erweckt. Erinnerungen an Dinge, die er nie erlebt hatte.
»Ich glaube, ich muß mich bei dir bedanken«, sagte er hastig. Rowl grunzte ärgerlich. »Bedank dich bei dem Mann, der gesehen hat, in welche Richtung du gegangen bist«, sagte er. »Aber tu es später, jetzt ist keine Zeit dafür. Komm.«
Er wollte nach Skars Hand greifen und ihn einfach mit sich ziehen, aber Skar wich seiner Berührung aus und brachte schnell zwei Schritte Distanz zwischen sich und den riesigen Quorrl. »Wieso hast du überhaupt nach mir gesucht?« fragte er. »Ist etwas passiert?«
»Noch nicht«, antwortete Rowl. »Aber es wird etwas geschehen, wenn wir noch lange hier herumstehen und reden. Vor der Burg sind Truppen aufgetaucht. Tempelkrieger aus Ninga. Und irgend etwas... ist bei ihnen. Ich weiß nicht, was. Und jetzt komm.«
19.
Wie um den Wahnsinn auf die Spitze zu treiben, brauchten sie eine gute halbe Stunde, um die Ebene Carans zu erreichen, auf der Rowls Quartier lag; für eine Strecke, für die Skar Minuten benötigt hatte; und noch dazu, ohne eine einzige der zahllosen Treppen und Leitern hinabzusteigen, über die Rowl ihn jetzt zurückführte. Aber er weigerte sich einfach, über diese neuerliche Unmöglichkeit nachzudenken.
Außerdem brauchte er all seine Kraft, um mit Rowl mitzuhalten, denn der Quorrl rannte mit Riesenschritten vor ihm durch die verlassenen Korridore, so daß Skar mehr als einmal befürchtete, den Anschluß zu verlieren und sich erneut zu verirren. Rowls Gemach hatte sich vollkommen verändert, als sie es erreichten. Aus dem großen, von schon fast unheimlicher Stille erfüllten stählernen Dom war ein Hexenkessel geworden. Mindestens drei, wenn nicht vier Dutzend Bastarde drängelten sich zwischen den rostigen Möbelstücken, und einer der magischen Spiegel Rowls war in Betrieb: er zeigte wieder das Felsplateau mit Titchs Kriegern, aber das war auch schon alles, was das Bild mit dem von gestern gemein hatte. Wo Skar am Tag zuvor ein zwar eng zusammengepferchtes Heer erblickt hatte, tobte jetzt ein Chaos aus durcheinanderstürzenden, flüchtenden Leibern. Hunderte von Kriegern hatten den Saumpfad erklommen, der weiter an Carans Flanken emporführte, und vor dem Riß im Fels herrschte ein heilloses Chaos. Offensichtlich versuchten die Krieger, ins Innere Carans zu fliehen.
Rowl schrie einem seiner Männer etwas zu und ließ ihn einfach stehen, und Skar ging zu Titch und Kiina, die er inmitten des Durcheinanders entdeckte. Der Blick des Quorrl war gebannt auf den Zauberspiegel gerichtet, während Kiina offensichtlich schon Zeit gefunden hatte, ihr Staunen zu überwinden. Als sie die blutende Stelle an seiner Hand entdeckte, trat eine stumme Frage in ihre Augen. Skar ignorierte sie.
»Was ist passiert?«
Titch hörte seine Worte gar nicht, sondern starrte weiter auf den Spiegel. Es war nicht die Unmöglichkeit der sich bewegenden Bilder, die ihn bannte, begriff Skar. Die Männer dort draußen waren seine Männer, und er war für das Leben jedes einzelnen verantwortlich. Was er für Faszination gehalten hatte, war Entsetzen.
Schließlich beantwortete Kiina seine Frage. »Ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Rowl ließ uns vor einer Stunde rufen. Die Krieger aus Ninga sind da. Aber da ist... noch mehr.«
Skar versuchte, mehr Einzelheiten zu erkennen, aber es gelang ihm nicht. Das Bild war seltsam unscharf, wie von einer dünnen Staubschicht überzogen. »Was ist das?« flüsterte er.
Die Frage galt niemand besonderem, aber Titch antwortete trotzdem: »Etwas... ist dort draußen, Skar. Nicht die Garde. Die Männer sind in Panik. Ich... ich muß zu ihnen!!« Den letzten Satz hatte er geschrien. Plötzlich fuhr er herum, stieß Kiina und Skar grob beiseite und lief zum Ausgang. Aber er kam nur wenige Schritte weit, ehe ihm zwei von Rowls Bastarden den Weg vertraten. Titch versuchte auch diese Männer zur Seite zu drängen, aber die beiden Quorrl hielten ihn - vorsichtig, aber trotzdem sehr entschlossen - zurück. Schließlich gab Titch es auf und wandte sich mit zornbebender Stimme an Rowl.
»Sag ihnen, daß sie mich durchlassen sollen!«
»Das werde ich bestimmt nicht tun, Titch«, antwortete er ruhig. »Es gibt nichts, was du für deine Männer dort draußen tun könntest.«