»Du -!«
»Wir können mehr von hier aus tun«, unterbrach ihn Rowl. Er wandte sich brüsk ab und gab Skar einen Wink, näher zu kommen. Kiina schloß sich ihm wortlos an, als Skar gehorchte, und nach ein paar Sekunden gesellte sich auch Titch zu ihnen. Die beiden Krieger, die ihn am Verlassen des Raumes gehindert hatten, folgten ihm in geringem Abstand; schweigend und mit steinernen Gesichtern, aber jederzeit bereit, zuzugreifen.
»Wofür hältst du das, Satai?« fragte Rowl und deutete auf den Spiegel. Er war nervös; noch erschrockener als vorhin, als er Skar vor der Metallspinne gewarnt hatte.
Skar zuckte hilflos die Schultern. Er wußte, was Rowl meinte - der Spiegel war lang nicht mehr so klar wie gestern. Graue Schlieren und treibende Fetzen wie schlieriger Nebel glitten über das Bild, und manchmal meinte man, Bewegung wahrzunehmen, die anders war als die der flüchtenden Quorrl, sich aber nicht greifen ließ.
»Irgend etwas scheint deinen Zauber zu stören«, sagte er schließlich.
»Zauber?« Kiina runzelte die Stirn, während es in Titchs Augen abermals zornig aufblitzte. Rowl starrte ihn durchdringend an, und Skar spürte die Drohung, die in diesem Blick lag. Er erinnerte sich gut seines gestrigen Gesprächs mit Rowl. An jedes Wort. Auch an die, die der Bastard nicht ausgesprochen hatte.
»Wir -«
»Herr!« Einer der Quorrl begann wild zu gestikulieren und deutete auf einen zweiten, kleineren Zauberspiegel, der an der anderen Wand hing. Skar hatte ihn bisher gar nicht beachtet, und er sah auch jetzt nichts als ein wildes Durcheinander von Farben und Bewegung. Aber Rowl zog erschrocken die Luft zwischen die Zähne ein, und Titch fuhr wie unter einem Hieb zusammen. Rowl machte eine befehlende Geste. Einer seiner Quorrl tat etwas an der metallenen Truhe, die Rowl auch schon gestern berührt hatte, als er Skar das Geheimnis des Zauberspiegels zeigte, und plötzlich verschwand das Bild von Titchs Armee von der großen Glasfläche. Statt dessen zeigte sie nun plötzlich einen Ausschnitt des Berghanges, zwei, vielleicht drei Meilen weiter südwärts, die Stelle, an der der geröllübersäte Trümmerhang allmählich in den schmalen Saumpfad überging, der zum Plateau und später zum Eingang Carans hinaufführte. Zwei, drei Quorrl schrien erschrocken auf, und Kiina schlug mit einem keuchenden Laut die Hand vor den Mund.
Auch dort unten lagerten Quorrl; Nachzügler des Heeres, vielleicht auch Wachen, die Titch dort zurückgelassen hatte, um ihren Rücken zu decken. Ihnen gegenüber, vielleicht noch durch eine halbe Meile zerklüfteten Gebietes getrennt, hatten gute drei-, vierhundert Krieger Aufstellung genommen; Männer in den glitzernden Rüstungen der Tempelgarde, wie sie Skar schon mehrmals begegnet waren.
Aber das war es nicht, was Skar erstarren ließ.
Zwischen den Kriegern aus Ninga und den angstvoll zusammengedrängten Quorrl aus Titchs Heer war noch etwas. Umrisse. Drei kolossale, schattenhafte Dinger, fünfzig oder mehr Fuß hoch und von ständig wechselnder Form, wie graubrauner Nebel, der sich zu einem Körper zusammenballen wollte, ohne daß es ihm jemals wirklich gelang. Aber was immer sich in diesem schattenhaften Etwas verbarg, es wurde deutlicher. Nach Sekunden glaubte Skar schuppige Panzerplatten zu erkennen, etwas wie eine riesige Kralle, Zähne von der Länge eines Armes und kleine, tückische Augen, die voller unersättlicher Gier auf die Quorrl herabstarrten.
»Was ist das?!« brüllte Rowl. »Wieso hat es keiner gesehen?«
»Das... das war vorhin noch nicht da«, antwortete der Quorrl, der die Zauberspiegel bediente. »Ich schwöre es, Herr, ich habe ununterbrochen hingesehen, und -«
»Lüg nicht, Kerl!« unterbrach ihn Rowl brüllend. Er hob die Faust, wie um den Mann zu schlagen.
»Laß ihn, Rowl«, sagte Skar leise und ohne den Blick vom Spiegel zu nehmen. »Er sagt die Wahrheit. Das da draußen sind die Wesen, die Caran geschaffen haben.«
Rowl starrte ihn an. Seine Kiefer mahlten.
»Vielleicht solltest du jetzt anfangen, darüber nachzudenken, wie lange ihnen dein famoser Wächter Widerstand leisten wird«, fügte Kiina spöttisch hinzu.
Skar warf ihr einen warnenden Blick zu und trat näher an den Zauberspiegel heran, um mehr Einzelheiten zu erkennen.
Sein Herz begann zu jagen. Er hörte, wie Kiina etwas sagte, aber er war unfähig, darauf zu reagieren oder das Gesagte auch nur zu verstehen. Er hatte Angst. Was dort unten, am Fuße des Berges, geschah, ging ihn an, und nur ihn. Die Schatten waren seinetwegen gekommen.
Er war nicht einmal überrascht, als sich in den wogenden Nebelschleiern Körper zu bilden begannen; einer, zwei, schließlich drei titanische dunkelgrüne Drachenkreaturen, ins Absurde vergrößerte Brüder der Tyrr, auf der Anschis Errish geritten waren, Monstren mit Köpfen so groß wie Droschken und Gehirnen klein wie Kinderfäusten. Er spürte kaum, wie die Unruhe unter Rowls Quorrls fast zur Panik wurde. Kiina berührte seinen Arm, nicht mehr um ihn zurückzuhalten, sondern um Schutz zu suchen. Ihre Finger krallten sich tief in seine Muskeln, aber auch der Schmerz drang nicht wirklich bis an sein Bewußtsein vor.
Auf den Rücken der drei riesigen Drachen saßen Gestalten: schwarz, gewaltig und klobig wie die Tiere, die sie ritten, gepanzerte Riesen mit absurd großen Köpfen. Und im gleichen Moment, in dem Skar vollends vor den Zauberspiegel trat und stehenblieb, hob eine der schwarzen Riesengestalten die Hände und nahm ihren Helm ab.
Titch schrie auf. Unter Rowls Männern brach vollends eine Panik aus; manche versuchten, aus der Kammer zu rennen, andere begannen schreiend durcheinanderzulaufen oder fielen auf die Knie und verbargen die Gesichter zwischen den Armen, andere standen wie gelähmt und blickten das goldene, edel geschnittene Gesicht an, das unter dem schwarzen Riesenhelm zum Vorschein gekommen war.
Skar war nicht einmal überrascht. Vielleicht war seine Fähigkeit, zu erschrecken, einfach erschöpft; vielleicht hatte er es sogar gewußt, zumindest geahnt.
Es war das Gesicht eines Ssirhaa.
Nicht irgendeines Ssirhaa. O nein, ganz bestimmt nicht.
Es war Ennart.
Der Gott der Quorrl, den Skar und Titch eigenhändig getötet hatten.
»Aber das ist... unmöglich«, stammelte Titch. »Das kann nicht sein! Sag, daß es nicht wahr ist, Skar!«
Skar reagierte nicht, aber Rowl wandte sich mit einer zornigen Bewegung um und blickte abwechselnd Skar und Titch an. »Was ist unmöglich, Titch?« fragte er. »Hast du mir nicht selbst erzählt, daß sie es sind, die jetzt in Ninga herrschen?«
»Aber nicht er!« keuchte Titch. Seine Stimme klang fast hysterisch. Er zitterte am ganzen Leib. »Nicht er, Rowl! Er ist tot! Wir... wir haben ihn getötet! Ich habe ihn umgebracht, Rowl, mit meinen eigenen Händen!«
Rowls Augen weiteten sich, als er begriff, daß Titch die Wahrheit sprach. Der hysterische Klang in seiner Stimme bewies das hundertmal mehr als seine Worte.
»Das kann nicht sein!« stammelte Titch. »Das ... das ist Zauberei! Es ist unmöglich!«
Rowl tat etwas an seiner Truhe, und das Bild änderte sich erneut: statt der beiden sich gegenüberstehenden Quorrl-Heere und der drei Drachengestalten waren jetzt nur noch Kopf und Schultern des Ssirhaa zu erkennen. Und als hätte der nur darauf gewartet, hob Ennart in diesem Moment den Kopf, so daß seine dunkelgoldenen Augen, durch die Macht des Zauberspiegels dutzendfach vergrößert und lodernd wie erstarrtes Feuer, direkt auf Skar und die anderen hinabzublicken schienen. Für einen entsetzlichen Augenblick war Skar fast sicher, daß es so war: daß nicht nur er Ennart, sondern der Ssirhaa umgekehrt auch ihn sah. Aber das war natürlich unmöglich. Er mußte seine Angst beherrschen, dachte er. Wenn er anfing, Ennart wirklich göttliche Macht zuzubilligen, dann hatte er diesen Kampf verloren, bevor er noch richtig begonnen hatte.