Aber wenn es so war, dann bedeutete das ...
Er weigerte sich, den Gedanken zu Ende zu denken und drehte sich wieder zu Titch und dem zweiten Quorrl um. Er wollte es nicht, aber seine Zunge gehorchte ihm nicht mehr. Gegen seinen Willen hörte er sich selbst fragen: »Wie viele seid ihr?«
Der Quorrl zögerte. Sein Gesicht war grau vor Schrecken, und er sah Skar auch jetzt nicht an. Sein Blick irrte unstet durch den Raum. »Ich... darf euch das nicht sagen«, antwortete er schließlich.
Titch fuhr herum und funkelte ihn an, aber wieder hielt Skar ihn mit einem warnenden Blick zurück.
»Ihr seid fünfhundert, nicht wahr?«
Der Quorrl starrte ihn an, schwieg. In seinem Gesicht arbeitete es.
»Es ist so«, behauptete Skar. »Ihr seid viele; vielleicht Tausende, wie Titch glaubt, aber hier drinnen seid ihr nur fünfhundert.«
»Ungefähr«, gestand der Quorrl widerwillig.
Titch keuchte, als er begriff, was Skar mit seinen Worten sagen wollte. »Fünfhundert -«
»Fünfhundert Eier für fünfhundert Quorrl«, sagte Skar grimmig. »Cron hat es gewußt, Titch. Diese Kisten waren niemals für den Goldenen Tempel in Ninga bestimmt.«
»Niemals!« behauptete Titch. »Das ist unmöglich, Skar! Er konnte nicht wissen, daß wir nach Ninga gehen!«
»Er hat uns selbst hierher geschickt!«
»Cron war kein Verräter!« beharrte Titch.
»Cron vielleicht nicht«, sagte Skar. »Aber möglicherweise der, den wir für Cron gehalten haben.«
Titchs Augen wurden weit. »Weißt du, was du da sagst?« Sie sind Meister der Lüge, Bruder. Und eine Lüge muß nicht immer gesprochen sein. Skar nickte. »Ja. Cron war nicht Cron.« Sowenig wie Ennart Ennart war. Oder Ian Ian. Oder... Aber das war nicht alles. Das schlimmste, erschütterndste Wissen, das diese Erkenntnis mit sich brachte, sprach er nicht laut aus. Wenn es wirklich so war, dachte er, dann bedeutete es nichts anderes, als daß der Daij-Djan versucht hatte, sie zu schützen, als er in jener Nacht die Kisten aufbrach, um die Eier zu vernichten.
»Nein«, flüsterte Skar. »Das... das kann nicht sein.« Es war unvorstellbar. Unmöglich.
»Was?« fragte Titch.
Skar sah auf und begriff erst jetzt, daß er den Gedanken laut ausgesprochen hatte. Er wollte antworten, irgend etwas sagen, aber er konnte es nicht. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Sein Blick glitt an Titchs Gesicht ab und suchte die Tür, und er erblickte einen schwarzen tiefenlosen Umriß in der roten Dämmerung des Ganges.
Der Daij-Djan sah ihn an, und der böse Hohn in seinen gar nicht vorhandenen Augen war erloschen und hatte einem Ausdruck tiefer, ehrlich empfundener Trauer Platz gemacht. Ich konnte es dir nicht sagen, Bruder. Du hättest mir nicht geglaubt. Es gibt Dinge, die lernt man nur durch Schmerz.
Titch drehte sich langsam zur Tür; folgte seinem Blick. Aber sein Gesicht blieb starr. Er sah den Daij-Djan nicht; so wenig wie vorher. Das Ding von den Sternen war Skars ganz persönliche Hölle, sein privater Dämon, der nun in ihm und nur für ihn existierte und den andere nur sehen konnten, wenn er es wollte. Und was jetzt und hier geschah, das ging nur sie an. Skar begriff mit einem Male, warum der Daij-Djan vorhin so widerstandslos nachgegeben hatte, als er Ennart gegenüberstand. Er hatte da schon gewußt, daß er am Ziel war. Er hatte gesiegt; es spielte keine Rolle, ob Skar sich noch einmal der Illusion hingab, ihm entkommen zu sein oder nicht.
Der Daij-Djan hob die Hand. Komm zu mir, Bruder. Nimm meine Hand, und das Leiden hat ein Ende. Für uns beide. Skar begann zu zittern. Langsam, unsicher, wie von einer Macht gelenkt, die stärker war als sein eigener Wille, wandte er sich vollkommen um und trat zwischen Titch und dem Bastard hindurch, der ausgestreckten Hand des Daij-Djan entgegen; und der Erlösung, die sie versprach.
Titchs Pranke fiel schwer wie ein Stein auf seine Schulter herab, und die ungeheure Kraft der Berührung und der Schmerz, den sie mit sich brachte, riß ihn in die Wirklichkeit zurück. Für Bruchteile von Sekunden hatte die Gestalt der Sternenbestie noch Substanz, dann wurde sie völlig zu einem Schatten und verschmolz schließlich mit der roten Dämmerung des Ganges. Skar schloß die Augen, blieb sekundenlang reglos und zitternd stehen und atmete hörbar aus. Titch sagte nichts, aber er sah ihn auf eine Art an, die Skar begreifen ließ, daß er wußte.
»Danke«, flüsterte er.
Titch lächelte; flüchtig und ganz kurz nur, aber in einer Art so ehrlicher, tief empfundener Freundschaft, wie Skar sie niemals zuvor verspürt hatte, während der Blick des Quorrl irritiert zwischen seinem und Titchs Gesicht hin und her irrte. Aber auch der Bastard wagte es nicht, etwas zu sagen, als spürte er, daß zwischen den beiden ungleichen Wesen etwas vorging. Und es war Titchs Berührung, die Last seiner starken hornigen Pranke auf Skars Arm, der das Etwas in Skar noch einmal - vielleicht zum letzten Mal - am Erwachen hinderte. Für einen kurzen Moment bekam der Schläfer noch einmal die Oberhand, und der ewige Traum ging weiter.
Aber schon der flüchtige Hauch der Wahrheit, der Skars Bewußtsein gestreift hatte, erfüllte ihn mit neuem Wissen. Zweierlei: Er spürte, daß es zu Ende ging - seine Zeit lief jetzt ab, unwiederbringlich und schnell. Und er wußte, wo Rowl und Kiina waren, wenn sie noch lebten. Es gab nur einen einzigen Ort in diesem Labyrinth aus Stahl und roter Dunkelheit, an dem sie sicher waren.
Fast behutsam löste er Titchs Hand von seiner Schulter und wandte sich wieder an den Quorrl. »Die Katakomben«, sagte er. »Die Höhlen unter Caran - gibt es noch einen anderen Weg dorthin?«
Wieder zögerte der Quorrl, und wieder tat er es auf jene ganz bestimmte Art und Weise, die Skar erkennen ließ, daß er ihnen etwas verschwieg.
»Wie kommst du darauf, daß sie dort sind?« fragte Titch. »Rowl hat davon gesprochen«, antwortete Skar. »Mehrmals. Ich an seiner Stelle hätte versucht, dorthin zu kommen.« Weil es der einzige Ort in dieser Festung ist, wo sie - vielleicht - sicher sind. Der einzige Ort, bis zu dem Ennarts Macht nicht reicht. Und weißt du auch, warum? Weil dort etwas anderes, Schlimmeres regiert.
Er ignorierte das Flüstern des Daij-Djan, so gut er konnte, und machte eine fast flehende Geste zu dem Bastard. »Bitte! Willst du hier oben sterben?«
»Wie sie?« fügte Titch mit einer Geste auf die toten Quorrl im Raum hinzu.
Der Bastard deutete ein Kopfschütteln an. »Nein«, murmelte er. Sein Blick suchte den Skars, und für einen zeitlosen Moment waren es nicht seine Augen, sondern die des Daij-Djan, in die Skar sah. Auch er wird sterben, Bruder. Ein weiterer Toter mehr auf deinem Weg zu mir.
»Es gibt... einen geheimen Fluchtweg, Herr. Niemand... weiß davon. Nur Rowl und ein paar Eingeweihte.«
»Und du gehörst dazu?«
Statt direkt zu antworten, wandte sich der Quorrl um und ging zur jenseitigen Wand, wobei er einen gewaltigen Bogen um die beiden aufgebrochenen Kisten schlug. Er bewegte sich langsam; Skar spürte, wie schwer es ihm fiel, zu tun, was sie von ihm verlangten. Es war das letzte, vielleicht bestgehütetste Geheimnis Carans, das sie ihn preiszugeben zwangen, und Skar war nicht einmal sicher, daß er es wirklich aus Angst tat; oder gar, weil sie ihn überzeugt hatten. Vielleicht war das Ding in ihm einfach schon zu stark, als daß er ihm widersprechen konnte. Der Quorrl hob die Hand und berührte eine Stelle an der Wand. Ein helles, durchdringendes Klacken erscholl. In der rotbraunen Canyonlandschaft aus Rost und Rissen erschien ein mannshoher Kreis, als sich ein tonnenschweres Segment der Wand wie von Geisterhand zu bewegen begann; langsam, mit drehenden, schraubenden Bewegungen, wie der Deckel eines übergroßen metallenen Behältnisses. Ein Schwall eisiger Luft schlug ihnen entgegen, die gleiche, furchtbare Kälte, die Skar schon bei seinem ersten Ausflug in die verbotenen Katakomben unter dem Berg gespürt hatte.