Skar und Titch traten näher, zögerten aber beide noch, den zum Vorschein gekommenen Gang zu betreten - vor allem, weil es kein Gang war: hinter dem stählernen Deckel lag eine schräg in die Tiefe führende, spiegelglatte Fläche, die sich in einer engen Spirale nach unten schraubte. Der Stollen war selbst für Skar nicht hoch genug. Titch und der Quorrl würden kriechen müssen; und Skar war nicht sicher, daß sie auf dem glatten Boden nicht den Halt verlieren würden.
»Wohin führt das?« fragte Titch.
»In die Katakomben, Herr«, antwortete der Quorrl. »Es gibt einen Tunnel, der aus Caran herausführt - zwei, drei Meilen weiter westlich in den Bergen.« Er sprach unsicher, stockend und mit großen Pausen zwischen den einzelnen Worten. »Vielleicht haben sie es geschafft.«
Titch machte eine auffordernde Handbewegung. »Dann geh. Wir folgen dir.«
Der Quorrl rührte sich nicht.
»Worauf wartest du?« fragte Titch ungeduldig. Ein mißtrauisches Funkeln glomm in seinen Augen auf. »Wenn dieser Weg sicher ist, dann geh ihn als erster.«
»Einer... muß zurückbleiben, Herr«, antwortete der Quorrl. Sein Blick wich dem Titchs aus und saugte sich an den Toten auf dem Boden fest. »Die Tür läßt sich nur von hier aus schließen.« Titch schwieg betroffen, und auch Skar hatte für Augenblicke Mühe, sich seinen Schrecken nicht zu deutlich anmerken zu lassen. Er glaubte plötzlich zu wissen, was all die Toten auf dem Weg hierher und hier drinnen zu bedeuten hatten. Er sah den Quorrl an, aber diesmal wich der Krieger seinem Blick nicht aus. Erstaunlicherweise entdeckte Skar in seinen Augen aber auch keine Spur von Angst.
»Gibt es ... keinen anderen Weg?« fragte er.
Titch blickte überrascht, und der Quorrl deutete ein Kopfschütteln an. »Geht«, sagte er. »Erschlagt ein paar von ihnen für mich.«
Und genau das ist der Grund, aus dem wir hier sind, dachte Skar bitter. Weil zu viele so gedacht haben - wie du, mein Freund. Weil sie alle und immer so gedacht haben. Das ist der Grund, aus dem aus Enwor eine Hölle geworden ist. Aus dem alles, was von seiner Größe geblieben ist, Waffen und die namenlosen Schrecken der Vergangenheit sind.
Und aus dem es uns gibt, Bruder, fügte eine flüsternde schwarze Stimme in seinem Kopf hinzu.
Trotzdem sagte er: »Ich verspreche es.«
22.
Tageslicht, drei oder vielleicht auch vier Stunden später: ein winziger Fleck, scheinbar noch Meilen entfernt, wie eine zerbrochene Münze, die im Sonnenlicht glänzte. Skar wußte kaum noch, woher er die Kraft nahm, zu gehen. Seine Glieder schienen Zentner zu wiegen, und sein Rücken schmerzte, als hätte jemand einen Dolch hineingestoßen. Er hatte sich verletzt, auf dem Weg nach unten, und er hatte Titch verletzt; vermutlich sehr viel schwerer als sich selbst. Was sie für einen Gang gehalten hatten, war eine Röhre aus spiegelglattem Metall gewesen, die in immer enger werdenden Windungen nach unten führte, ein Fluchtweg im wahrsten Sinne des Wortes, auf dem es kein Zurück mehr gab. Was ihm vermutlich das Leben gerettet hatte, war der simple Zufall gewesen, daß Titch als erster durch die verborgene Tür getreten war: sie hatten beide den Halt verloren, kaum daß sie ein paar Schritte gemacht hatten, und waren in immer enger - und schneller! - werdenden Spiralen nahezu senkrecht nach unten gerast. Wäre der Quorrl hinter ihm gewesen, hätte er Skar mit seinem Körpergewicht wahrscheinlich zermalmt, als die Röhre sie nach endlosen Minuten in den finsteren Kellergewölben Carans ausspie.
So war es Skar gewesen, der mit der Wucht eines lebenden Geschosses in den Rücken des Quorrl traf. Er hatte sich das rechte Knie geprellt, und sein Armstumpf war aufgebrochen und hatte wieder zu bluten begonnen, denn er hatte ganz instinktiv versucht, den Sturz mit den Händen aufzufangen; Verletzungen, die schmerzhaft und hinderlich, aber nicht besonders gefährlich schienen. Was mit Titch war, wußte er nicht. Wie es seine Art war, hatte der Quorrl kein Wort darüber verloren, aber er bewegte sich mühsam und blieb in immer kürzeren Abständen stehen - angeblich, um sich zu orientieren - und manchmal, wenn er glaubte, Skar sehe es nicht, zuckte sein Gesicht vor Schmerz. Skar hatte den dumpfen Laut und das Knirschen in Titchs Rücken sehr wohl gehört, als er gegen ihn prallte. Er mußte dem Quorrl mehrere Rippen gebrochen haben; wenn nicht schlimmeres. Was danach kam ...
Selbst Skar war sich nicht sicher, was von dem, woran er sich erinnerte, wirklich geschehen und was bloße Einbildung gewesen war. War ihm der obere, bewohnte Teil Carans unheimlich und fremd vorgekommen, so kam in diesen unterirdischen Gängen noch eine spürbare Feindseligkeit hinzu; ein Gefühl, als begingen sie einen Frevel, allein dadurch, daß sie hier waren. Dieser Ort war nicht von Menschen und nicht für Menschen gemacht; und auch nicht für Quorrl. Skar wußte jetzt, was Rowl gemeint hatte, als er davon sprach, daß es nicht gut war, hier herunter zu kommen.
Sie hatten auch hier unten Skelette gefunden; acht, vielleicht zehn Quorrl, die im Tod übereinandergestürzt waren, so daß ihre Zahl nur noch zu schätzen war, und einen Bastard-Krieger, der scheinbar unversehrt schien. Und einmal hatte Skar geglaubt, am Ende des Stollens, durch den sie gingen, einen mißgestalteten Schatten zu sehen, war aber nicht sicher gewesen, so daß er es vorzog, Titch nichts von seiner Beobachtung zu erzählen. Zumindest waren sie nicht angegriffen worden. Die einzige konkrete Gefahr, der sie begegneten, waren zwei der eisernen Spinnentiere gewesen, die ihren ruhelosen Weg durch die Keller Carans zogen. Sie waren ihnen ausgewichen; einmal leicht, das zweite Mal nur, indem sie so lange rannten, bis sich der Gang teilte und im letzten Moment eine andere Abzweigung nahmen als das Eisentier. Titch hatte auch den Umstand, daß Skar die alptraumhafte Kreatur kannte, ohne ein Wort hingenommen. Vielleicht begriff auch er, daß mit Skar etwas geschah; vielleicht war er auch nur einfach zu sehr verletzt, um sich auf mehr als das absolut Notwendige zu konzentrieren.
Skar hoffte, daß es nicht so war. Seine eigenen Kräfte ließen jetzt so rasch nach, daß er manchmal zu spüren glaubte, wie das Leben aus ihm herausfloß, ein dunkel pulsierender Strom, der aus unsichtbaren Wunden in seiner Seele rann und ihn schwächer und schwächer werden ließ, mit jedem Schritt. Er war nicht mehr in der Lage, zu kämpfen. Titch war endgültig zu seinem Schwert und seiner Faust geworden.
Als hätte der Quorrl seine Gedanken gelesen, blieb er in diesem Augenblick wieder stehen und lehnte sich schweratmend gegen die Wand. Als er Skars besorgten Blick bemerkte, zwang er sich zu einem Lächeln und deutete auf die zerbrochene Münze am Ende des Ganges. »Das dort vorne muß der Ausgang sein, von dem der Krieger gesprochen hat«, sagte er.
Skar nickte mühsam. Auch er wankte vor Schwäche. Sie mußten Meilen gelaufen sein, aber das war es nicht allein.
Wie lange noch? dachte er. Eine Stunde? Zwei? Wie lange noch, bis das Gift, das er in Elay eingeatmet hatte, seinen Körper endgültig verbrannte?
Instinktiv streckte er die Hand aus, um gleich dem Quorrl irgendwo Halt zu finden, aber er war zu weit von der gegenüberliegenden Wand entfernt, und selbst die Anstrengung, die beiden Schritte dorthin zu tun, erschien ihm zu groß. Ohne direkt auf Titchs Bemerkung zu antworten, ging er weiter, und nach Sekunden hörte er, wie sich der Quorrl von der Wand abstieß und ihm mit schleifenden, ungleichmäßigen Schritten folgte.
Der Weg schien kein Ende zu nehmen. Der winzige Fleck aus flackernder gelber Helligkeit schien sich von ihnen zu entfernen, statt näher zu kommen, und Skar war auf diesem letzten Stück des Weges mehr als einmal nahe daran, einfach aufzugeben. Die Verlockung war groß: einfach aufgeben, sich auf den kalten Boden zu legen und die Augen zu schließen, ein vielleicht langsamer, aber sanfter Tod.