»Es ist gestorben, als es mich gebissen hat, ja«, sagte Skar. Er sah, wie Titch noch einmal und nicht weniger heftig erschrak, und plötzlich war im Blick des Quorrl etwas Neues, Ungutes, das Skar schaudern ließ. Er versuchte zu lächeln und einen Scherz zu machen, um die Situation zu entspannen. »Kiina behauptet ja schon lange, daß ich manchmal ungenießbar bin.« Aber Titch blieb ernst. Das Entsetzen in seinen Augen wurde eher noch tiefer. »Es ... es tut dir nichts«, flüsterte er.
Skar hielt seinem Blick stand, aber es fiel ihm schwer, unendlich schwer. Der Quorrl schien innerlich zu Eis zu erstarren, und Skar spürte, wie sich etwas zwischen ihnen änderte. Ein falsches Wort, vielleicht nur eine falsche Betonung - oder auch etwas, das er nicht sagte - und alles wäre zu Ende.
»Vielleicht tötet es nur Quorrl«, sagte er vorsichtig. »Crons Geschenk war für Rowl und seine Bastarde gedacht, nicht für mich.«
Titch antwortete nicht, aber Skar spürte auch so, daß es die falschen Worte gewesen waren. »Titch«, sagte er. »Bitte! Zieh jetzt keine falschen Schlüsse. Ich bin so überrascht wie du.« Titch schwieg weitere fünf, dann zehn Sekunden - und plötzlich lächelte er, nervös und gezwungen und nicht sehr überzeugend. »Schon gut«, sagte er. »Es... tut mir leid, Skar. Wieso werfe ich dir eigentlich vor, noch am Leben zu sein. Gehen wir weiter, ehe noch mehr von diesen Biestern hier auftauchen.« Er gab Skar keine Gelegenheit, zu antworten. So hastig, daß es fast einer Flucht gleichkam, drehte er sich herum und ging dem Ende des Tunnels entgegen.
Auf den letzten Metern wurde der Weg schwierig. Der Boden stieg plötzlich steil an und war mit scharfkantigen Trümmern übersät oder von Rissen durchzogen, so daß Skar seine ganze Konzentration aufwenden mußte, um keinen Fehltritt zu tun. Seine Hüfte tat sehr weh, und er hatte Schwierigkeiten, das Bein zu bewegen. Die Wunde hatte aufgehört zu bluten, aber ringsum war das Fleisch taub und hart geworden. Es fiel ihm sehr schwer, zu gehen. Selbst, wenn er gewollt hätte, hätte er Titch kaum einholen können, auf den letzten Metern.
Aber schließlich hielt Titch von selbst an und wartete auf ihn. Schwer gegen die Wand gelehnt blieb Skar stehen und blinzelte in das ungewohnt grelle Licht der Sonne hinaus.
Unter ihnen lag ein gewaltiger, mit hausgroßen Trümmern und Felsbrocken übersäter Krater. Es war kein Ausgang aus der stählernen Festung, sondern das zerborstene Ende eines Stollens, der früher einmal viel weiter geführt haben mußte. Jemand hatte ihn genommen und wie ein dünnes Schilfrohr einfach entzweigebrochen, und die gleiche, unvorstellbare Kraft hatte auch den Rest des Berges hinweggefegt. Obwohl seine Schwäche ein Maß erreicht hatte, die ihn selbst so einfache Dinge wie das Atemholen mühsam werden ließ, spürte Skar einen Schauer von Entsetzen, als ihm klar wurde, welch unvorstellbare Gewalten hier vor Äonen am Werk gewesen waren; Gewalten, die einfach ein Stück aus der stählernen Festung herausgerissen hatten. Caran setzte sich fort, auf der anderen Seite des gut zwei Meilen messenden Kraters, in dessen Hang sie standen. Skar konnte die gähnenden Löcher der Tunnelöffnungen und Gänge auf der anderen Seite erkennen, zusammengedrückte Säle und stählerne Kammern, von den Hammerschlägen zorniger Götter getroffen und zermalmt wie dünnes Goldblech. Was er für Felstrümmer gehalten hatte, waren Brocken aus geschmolzenem Stahl.
Titch hob die Hand und deutete schräg nach unten. In der bizarren Trümmerlandschaft bewegten sich... Punkte. Ameisen zwischen kopfgroßen Felsen, deren hektisches Hin und Her Skar die Größe dieses Kraters und damit das Ausmaß der Zerstörung erst wirklich klar machten. Großer Gott, welche Gewalten hatten sie herausgefordert?
»Der Hang ist nicht sehr steil«, sagte Titch nachdenklich. Er sah Skar besorgt an. »Schaffst du es?«
Vor zwei Tagen hätte Skar nicht einmal über die Frage nachgedacht. Jetzt wußte er die Antwort im ersten Moment wirklich nicht. Der Hang war wirklich nicht besonders steil, dafür aber sicherlich eine Meile lang, und die Götter allein wußten, was sie dort unten erwarten mochte. Die Gestalten dort unten waren zu weit entfernt, und Skars Sehvermögen nach der stundenlangen Wanderung durch das rote Licht Carans zu sehr getrübt, als daß er sie unterscheiden konnte, aber der Lärm, den sie hörten, sprach eine deutliche Sprache. Er würde jedes bißchen Kraft bitter nötig haben, dort unten. Vielleicht sollte er sich von Titch helfen lassen. Der Quorrl war stark genug, ihn die ganze Strecke zu tragen, ohne auch nur außer Atem zu geraten. Aber dann dachte er an den knirschenden Laut, den er gehört hatte, als seine Knie Titchs Rücken trafen, und schüttelte den Kopf. »Es ... geht schon wieder.«
Titch sah ihn zweifelnd an, sagte aber nichts mehr, sondern begann schweigend mit dem Abstieg.
Es war leichter, als Skar befürchtet hatte. Der Boden war abschüssig und mit zahllosen Trümmern übersät, aber eine Million Jahre Rost und Erosion hatten ihn porös werden lassen, so daß ihre Füße festen Halt fanden. Dann und wann lösten sich kleine Trümmerlawinen und Wolken von rostrotem Staub unter ihren Schritten, und einmal stürzte Titch und blieb sekundenlang benommen liegen.
Der Kampflärm nahm allmählich zu. Nach und nach konnte Skar Einzelheiten erkennen, obwohl ihnen titanische Stahlfetzen und bis zur Unkenntlichkeit vom Rost zusammengebackene Trümmer mehr und mehr die Sicht nahmen: es waren Quorrl, die dort unten kämpften, Rowls Bastarde auf der einen und Ennarts Tempelgarde aus Ninga auf der anderen Seite; soweit es in dem verzweifelten Handgemenge, dem sie sich näherten, irgend etwas wie erkennbare Seiten gab. Skar hielt nach dem Ssirhaa und seinen beiden Begleitern selbst Ausschau, konnte sie aber nirgends entdecken. Er sah auch Kiina und Rowl nirgends, gestattete sich aber nicht, deswegen zu erschrecken. Der Krater war gewaltig, und zwischen den Riesentrümmern auf seinem Grund konnte sich eine ganze Armee verstecken, ohne daß er auch nur eine Spur von ihr sah. Er zog sein Schwert, obwohl er sich dabei fast selbst lächerlich vorkam - die Waffe lag so schwer und klobig in seiner Hand, daß er Mühe hatte, unter ihrem Gewicht nicht die Balance zu verlieren. Er würde einfach zusammenbrechen, wenn er versuchte, damit zuzuschlagen; oder auch nur einen Hieb abzuwehren. Er würde - »Das ist Rowl!«
Titchs Schrei riß ihn zurück in die Wirklichkeit. Sein Blick folgte Titchs ausgestreckter Hand und fand eine winzige, in schreiendes Rot gekleidete Gestalt auf der anderen Seite des Kraterbodens. Der Quorrl kämpfte inmitten einer kleinen Schar Bastarde gegen eine erdrückende Übermacht von Ningas Gardesoldaten. Trotzdem schien der Ausgang des Kampfes noch keineswegs festzustehen: Rowls Männer befanden sich in einer leicht zu verteidigenden Position, und sie kämpften mit der verbissenen Wut von Wesen, die nichts mehr zu verlieren hatten. Die meisten Gestalten, die reglos auf dem Boden lagen, trugen die schreiend bunten Paraderüstungen der Tempelgarde, nicht die schmuddeligen Fetzen der Bastarde.
»Wo ist... Kiina?« murmelte er.
»Sie muß bei ihm sein«, antwortete Titch; eine Spur zu hastig. Er sah Skar an und zog seine Waffe. Sein Gesicht zuckte vor Schmerz, als er die linke Schulter bewegte. »Rowl hat mir versprochen, auf sie acht zu geben. Wenn sie noch lebt, ist sie bei ihm.« Sein Blick wurde durchdringend; und sehr besorgt. »Schaffst du es wirklich?«
Statt zu antworten, lief Skar los.
Sie wurden angegriffen, als sie die Hälfte der Distanz zwischen sich und den Bastarden zurückgelegt hatten; von einem halben Dutzend Gardesoldaten zugleich. Unter normalen Umständen hätte Skar die Falle bemerkt, aber er war zu schwach und Titch zu schwer verletzt, als daß sie Energie darauf verschwenden konnten, auf ihre Umgebung zu achten. Sie stürmten zwischen zwei gewaltigen eisernen Trümmerbrocken hindurch und sahen sich urplötzlich einer Wand aus drohend erhobenen Speeren und Schwertern gegenüber.