Skar torkelte weiter. Fiel wieder hin. Quälte sich noch einmal auf die Füße und stürzte erneut. Er fühlte sein Herz nicht mehr schlagen. Eine unglaubliche Kälte machte sich in seinem Körper breit. Er wollte aufstehen, erhob sich taumelnd auf die Knie und stürzte schwer zur Seite. Der Schmerz, mit dem er auf dem Boden aus gerissenem Stahl aufschlug, war seltsam isoliert, wie eine glühende Nadel, die durch die allumfassende Schwärze in seinen Gedanken stach, ohne ihm wirklich weh zu tun. Dunkelrote Nebel breiteten sich in seinem Blickfeld aus. Er konnte noch sehen, aber alle Bewegungen waren mit einem Male sonderbar schnell und abgehackt, gleichzeitig aber auch fast lächerlich langsam, als wäre die Zeit zerbrochen, in eine viel zu schnelle und eine viel zu langsame Hälfte. Titch rief ihm irgend etwas zu, aber die Worte verwandelten sich auf dem Weg zu ihm in klickende, schrille Geräusche, die keinen Sinn mehr ergaben.
Nach einer Ewigkeit hörte er Schritte. Ein breites, goldfarbenes Gesicht, das zugleich einem Quorrl wie einem Menschen zu gehören schien, beugte sich über ihn, und Augen voller unstillbarer Gier blickten auf Skar herab. Er sah den Triumph darin, den er erwartet hatte, das Wissen um den sicheren Sieg - aber auch noch etwas anderes. Bedauern. Ein Bedauern, das Skar galt, aber nicht seinem Leben, sondern Enttäuschung jener Art war, auf die man ein unersetzliches Werkzeug betrachten mochte, das zerbrochen war.
»Du bist ein Narr, Skar«, sagte Ennart. »Warum hast du mich gezwungen, dich zu töten?«
»Du kannst... mich haben«, flüsterte Skar. Sein Blick suchte Titch und die anderen, aber er sah sie nicht mehr. Der Ring der Ungeheuer hatte sich geschlossen. »Versprich mir... Kiina freizulassen und schenke ihnen das Leben«, flüsterte er. »Und du kannst... mich haben.«
Der Ssirhaa seufzte. »Es ist zu spät, Satai«, sagte er. »Dem Mädchen wird nichts geschehen, aber sie...« Er schüttelte bedauernd den Kopf. Er konnte Titch und die Bastarde nicht am Leben lassen. Nicht nach dem, was sie gesehen hatten.
»Dann gewähre ihnen ... wenigstens einen... ehrenhaften Tod«, flüsterte Skar. Er konnte kaum noch reden. Blut füllte seinen Mund. Er begann daran zu ersticken.
»Selbst dein letzter Atemzug gilt einem anderen«, sagte Ennart lächelnd. »Welch eine Schande, dich so sinnlos zu töten. Was für eine Verschwendung.«
Er zog sein Schwert. Skars Blick glitt ohne Furcht über die Klinge der gewaltigen Waffe, suchte noch einmal Titch und fand ihn diesmaclass="underline" Der Quorrl stand Rücken an Rücken mit Rowl, mit gleich zwei Schwertern bewaffnet, bleich vor Entsetzen, aber reglos und ohne eine Spur von Furcht. Zwischen ihm und der Front von Ennarts Ungeheuern war weniger als ein Meter. Nicht so, dachte Skar. Laß ihn nicht so sterben. Er hatte nicht mehr die Kraft, zu sprechen, aber Ennarts hoch erhobene Klinge verharrte für einen Moment, als hätte er seine Gedanken gelesen. Ihre Blicke trafen sich. Ennart lächelte.
Und Skar dachte: Jetzt, Bruder. Wenn du mich noch haben willst, dann komm. Und der Daij-Djan kam.
23.
Der Fluß war so breit wie ein kleines Meer, mit einer Strömung, die so reißend war, daß Skar selbst aus zwei-, oder dreihundert Metern Höhe noch die kleinen Wirbel und Strudel erkennen konnte, die die Wucht des dahinschießenden Wassers in seine Oberfläche rissen, wie kleine wirbelnde Gespenster aus purer Bewegung, in unablässigem Werden und Vergehen. Die Felswand auf der anderen Seite des Canyons schien Meilen entfernt und kaum höher als zwei übereinandergelegte Finger; dabei war sie ein nicht enden wollender Sturz ins Nichts, eine viertel Meile hoch wie die Wand, auf deren Krone er stand, und von einem seit Äonen tobenden Sturmwind zu einem Spiegel aus reflektierendem grauen Gestein poliert.
Skar schloß den Kragen seines schwarzen Satai-Mantels fester, um vor dem Sprühwasser geschützt zu sein, das selbst hier oben wie feiner alles durchdringender Nebel in der Luft hing. Es war kalt; auf den Wipfeln der Bäume im Norden lag noch Schnee, und die allgegenwärtige Feuchtigkeit machte alles noch schlimmer. Sein eigener Atem hing wie grauer Dampf vor seinem Gesicht und vermischte sich mit dem Sprühregen des Sturzes, und seine Finger prickelten vor Kälte. Vor seinen Stiefelspitzen, nicht einmal eine Handbreit entfernt, endete der Fels. Hinter der vor Feuchtigkeit glänzenden, tückisch-glatten Kante war das Nichts, ein dreihundert Meter tiefer Fall, dessen bloßer Anblick ihm noch vor wenigen Tagen den Magen herumgedreht hätte. Jetzt empfand er... nichts. Er hätte einen Schritt machen und in das tobende weiße Chaos dort unten eintauchen können, nur um eine halbe Stunde - oder auch fünf - später naß und frierend, aber unverletzt, irgendwo Meilen entfernt ans Ufer des Ningara zu kriechen und sich für seine eigene Dummheit zu verfluchen. Für einen Moment war er fast versucht, es zu tun; einfach nur, um sich selbst zu beweisen, daß er es konnte.
Skar lächelte. Der Gedanke war verrückt, aber er war nicht der erste seiner Art. In den letzten Tagen überkamen ihn die sonderbarsten Anwandlungen, und manchmal fiel es ihm schwer, ihnen zu widerstehen. Vielleicht war die Unsterblichkeit etwas, mit dem Menschen einfach nicht fertig werden konnten.
Er verscheuchte auch diesen Gedanken, machte - sich selbst mißtrauend - einen Schritt zurück und wandte sich erst dann vollends nach Norden. Ninga, die Verbotenen Inseln und der Goldene Tempel lagen wie eine Spielzeuglandschaft unter ihm, ein blitzendes Schmuckstück in einem Diorama aus fleckigem Grün und Weiß und dem allgegenwärtigen Donnern des Sturzes, einem Laut, der jedes andere Geräusch verschluckte und es hier, weniger als eine Meile von seinem Ursprung entfernt, unmöglich machte, sich zu unterhalten, ohne zu schreien. Es war wie das Brüllen eines Drachen, ein Schrei unstillbarer Wut, der seit einer oder vielleicht auch zehn Millionen Jahren anhielt und niemals enden würde, so lange sich diese Welt drehte. Ja, er konnte verstehen, warum die Quorrl ihr größtes Heiligtum ausgerechnet hier errichtet hatten. Sie waren ein wildes Volk, trotz allem, und wenn es einen Ort gab, der dem Wort Zorn Gestalt verlieh, so war es der Sturz.
Skar rief sich in Gedanken zur Ordnung und besann sich auf den Grund, aus dem er hergekommen war. Gleichzeitig gestand er sich ein, daß er auf Titch hören und sich die mühsame Kletterei hätte ersparen können. Der Goldene Tempel war ein phantastisches Bauwerk - aber als Festung nicht das Pergament wert, auf dem seine Grundrisse gezeichnet worden waren. Es gab keine Mauern oder Wälle; keine nennenswerten Verteidigungsanlagen; nicht einmal eine Möglichkeit, Schiffe oder Flöße am Anlegen auf den meilenlangen, vollkommen ebenen Stranden der Insel zu hindern. Heute abend, wenn die Sonne unterging, würden sie angreifen, und zwei Stunden später waren die Inseln in ihrer Hand - Skar war nicht nur sicher, daß es so kam: er wußte es. Auch das war etwas, was neu war: manchmal wußte er Dinge einfach. Und das war lange nicht alles. Er hatte das sichere Gefühl, daß er seine Kräfte gerade erst zu entdecken begonnen hatte.
Es war so anders gewesen, so völlig anders, als er erwartet hatte. Der Daij-Djan, sein Dunkler Bruder, war nichts als...
»Skar!«
Durch das Dröhnen des Sturzes hindurch ahnte er den Ruf mehr, als er ihn hörte. Trotzdem sah er auf, hob die Hand über die Augen, um sie vor dem Sprühregen aus nadelspitzen Wassertropfen zu schützen, und sah in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Titchs Ruf hatte sich angehört, als komme er aus meilenweiter Entfernung, aber der Quorrl befand sich keine dreißig Schritte hinter ihm. Seine goldene Rüstung glänzte vor Nässe, und die Art, in der er das Bein nachzog, verriet Skar, daß er noch immer Schmerzen hatte. Anders als er brauchte der Quorrl Zeit, um die Verletzungen auszukurieren, die er in Caran davongetragen hatte.