Skar ging ihm entgegen; weniger, um Titch den mühsamen Weg zu ersparen, als vielmehr, weil es unmittelbar am Rand der Schlucht unmöglich war, miteinander zu reden. Titch blieb stehen, schweratmend, taumelnd vor Erschöpfung und mit schmerzverzerrtem Gesicht. Für den Weg, den Skar in einer guten Stunde zurückgelegt hatte, mußte er kaum die halbe Zeit gebraucht haben. Skar hob die Hand und berührte den Quorrl flüchtig an der Schulter. Kraft floß wie ein unsichtbarer Strom aus seinen Fingern in den Körper des Quorrl; er spürte, wie Titchs Erschöpfung einer wohligen Mattigkeit wich und seine Schmerzen auf ein erträgliches Maß schwanden. Er hätte die Wunden des Quorrl auch heilen und ihn fast so stark und unverwundbar wie sich selbst machen können - aber das Entsetzen, mit dem Titch diesen Vorschlag abgelehnt hatte, hatte ihn daran gehindert, ihn ein zweites Mal zu machen. Der Quorrl wich auch jetzt fast erschrocken vor ihm zurück, kaum daß seine Finger ihn berührt hatten. Aber er protestierte nicht, sondern starrte ihn nur eine halbe Sekunde lang fast feindselig an, ehe er sich mit einem Ruck herumdrehte und auf das bunte Flickenmuster aus Zelten hinabdeutete, zwei Meilen unter ihnen im Tal.
»Die Späher melden Reiter«, sagte er knapp. »Männer aus Ninga. Du solltest im Lager sein, wenn sie kommen.«
Sein Blick wich dem Skars aus; wie stets seit (waren es wirklich erst sieben Tage? Skar kam es länger vor) sie Caran verlassen und sich auf den Weg hierher gemacht hatten, und wie immer in diesen endlosen Tagen und Nächten (die Nächte waren das Schlimmste, er brauchte keinen Schlaf mehr, und in den endlosen Stunden, die er wach dalag und darauf wartete, daß es wieder Tag wurde, spürte er die Einsamkeit am stärksten), versetzte es seither Skar einen dünnen, tiefgehenden Stich. Wie immer setzte er dazu an, etwas zu sagen, und wie stets konnte er es nicht. Es war absurd: er hatte die Macht eines Gottes, eine Macht, von der Kreaturen wie Ennart nur geträumt hätten, aber all diese ungeheuerliche Macht reichte nicht aus, Titchs Freundschaft zurückzugewinnen. Dabei war es so leicht. Vielleicht noch leichter, als er glaubte. Vielleicht hätte er nur darum zu bitten brauchen. Aber er konnte es nicht. Das war etwas, was ihm verwehrt war, für immer. Skar war endgültig von der Seite derer, die baten, auf die Seite der Fordernden getreten.
Er spürte, daß er mit seiner Antwort ein wenig zu lange gezögert hatte. Titch begann nervös zu werden. Hastig sagte er: »Es ist gut. Ich komme.« Und ebenso hastig wandte sich Titch um und lief zum Lager zurück.
Skar blickte ihm traurig nach. Es gab keinen Grund für diese Eile. Sie hätten den Weg ebensogut gemeinsam zurückgehen können. Aber Titch mied seine Nähe, wo es nur ging. Langsamer als nötig, nur um Titch nicht in die Verlegenheit zu bringen, laufen zu müssen, folgte er dem Quorrl.
Es war so anders, so völlig anders, als er erwartet hatte. Aber auch der Preis, den er bezahlt hatte, war anders gewesen. Viel höher.
So viel höher. Warum hast du mir das verschwiegen, Bruder? dachte er.
Für Sekunden lauschte er in sich hinein, aber die Stimme des Daij-Djan schwieg. Sie war für immer erloschen, in dem Moment, in dem sie eins wurden, und er würde sie nie wieder hören, weil der Daij-Djan jetzt er war, so wie er zu der Sternenbestie geworden war.
Obwohl er sich nicht bemühte, sonderlich schnell zu gehen, erreichte er das Lager nur wenig nach Titch, denn der Quorrl hatte seine alte Behendigkeit längst noch nicht zurückgewonnen. Das Heerlager war in konzentrischen Kreisen errichtet worden, wie alle Quorrl-Lager: ein Wall aus Schilden und hastig gebauten, nichtsdestoweniger aber sehr massiven hölzernen Barrikaden außen, hinter denen die Krieger in sorgsam überlegten Stellungen lagerten - die stärksten und am besten bewaffneten Männer außen, ganz innen die Wagen mit den mitgebrachten Vorräten und die Zelte mit den Verwundeten und Kranken. Seine eigene Unterkunft befand sich genau im Zentrum dieses Systems aus überlappenden Ringen und Kreisen, wie es dem Führer eines Heeres zukam, so daß er gezwungen war, jedesmal die Hälfte des Lagers zu durchqueren, wenn er es verlassen oder betreten wollte. Am ersten Tag hatte ihm dies nichts ausgemacht; jetzt litt er darunter. Trotz des Respekts und der Ehrerbietung, die ihm die Quorrl entgegenbrachten, war es ein Spießrutenlauf. Auch das war etwas, was ihm der Daij-Djan verschwiegen hatte - daß er noch immer darunter litt, jetzt vielleicht mehr als zuvor. Er verscheuchte auch diesen Gedanken, ging nun doch schneller und betrat das Zelt nur wenige Augenblicke nach Titch. Der Quorrl hatte an einem großen, hölzernen Tisch Platz genommen, auf dem sich eine zweifarbige Karte Ningas und der Heiligen Inseln befand. Ihre Ränder waren mit Nadeln im Holz befestigt, um zu verhindern, daß sie sich aufrollte; kleine, buntfarbene Steinchen markierten die Lage ihres Heeres und das der Verteidiger. Die roten Steine, die die Tempelgarde und die hastig zusammengetrommelten Truppen aus Bauern und Handwerkern markierten, die die Tempelpriester zu Hilfe gerufen hatten, waren in der Überzahl. Aber Skar wußte, wie wenig Zahlen in diesem Kampf bedeuteten.
Titch wollte aufstehen, als er das Zelt betrat, aber Skar winkte hastig ab und wandte sich an Rowl, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten. »Sie kommen also.«
Der Bastard nickte nervös. »Etwa zwanzig. Ein Priester ist bei ihnen.«
Skar war nicht überrascht; wenn, dann allenfalls darüber, daß es erst jetzt geschah. Sie waren am vergangenen Abend hierhergekommen, und im Grunde hatte er schon im Laufe der Nacht damit gerechnet, daß ein Abgesandter aus Ninga erschien. Das Heer hatte sich sehr schnell bewegt, für ein Heer dieser Größe, aber auch ein sich schnell bewegendes Heer war noch immer langsam. Ihr Auftauchen konnte niemanden auf den Verbotenen Inseln überrascht haben.
»Was befehlt Ihr, Herr?«
»Nichts«, antwortete Skar nach kurzem Überlegen. »Laß sie herkommen. Ich will den Priester sehen, sobald er eingetroffen ist.«
»Und die Krieger?«
Skar zuckte scheinbar gleichgültig mit den Schultern. Er verstand die Frage nicht ganz - die Männer waren Parlamentäre, und als solche genossen sie freies Geleit; soviel er wußte, selbst bei den Quorrl. »Sie kommen nicht als Angreifer«, erinnerte er Rowl. »Nehmt ihnen ihre Waffen ab und laßt sie in Frieden, solange sie ihn nicht selbst brechen. Behandelt sie, wie Quorrl Unterhändler behandeln.«
Rowl nickte und entfernte sich, rückwärts gehend und so schnell, daß er fast über seine eigenen Beine gestolpert wäre. Unter anderen Umständen hätte Skar ein Lachen unterdrücken müssen bei diesem Anblick. Jetzt trug er eher dazu bei, seine Verbitterung noch zu vertiefen.
Auch Titch wollte sich erheben und gehen, aber Skar hielt ihn mit einer Handbewegung zurück. »Warte«, bat er. »Ich möchte mit dir reden.«
Titch blieb. Aber er erhob sich und blieb auf der anderen Seite des Tisches stehen; eine Haltung, die Respekt, aber auch Distanz ausdrückte. »Ja?«
»Dieser Priester...«, begann Skar unsicher. »Was will er?«
»Um Gnade bitten. An deine Vernunft appellieren. Dir drohen - was weiß ich?«
»Du bist ein Quorrl«, erinnerte ihn Skar überflüssigerweise und in schärferem Ton, als er gewollt hatte. Aber Titch reagierte nicht mehr darauf. Skar hatte ein einziges Mal Schrecken in seinen Augen gesehen, im ersten Moment, als der Quorrl begriff, und dann nicht mehr. Vielleicht hatte er es von Anfang an gewußt, tief in sich drinnen. Vielleicht war es ihm auch gleich. »Du bist ein Quorrl!«, sagte er noch einmal, und in - wenigstens versuchte er es - versöhnlicherem Ton als das erste Mal. Er widerstand der Versuchung, vielleicht zu lächeln. Er hatte in einen Spiegel gesehen, vor drei oder vier Tagen, und er wußte, wie sein Lächeln wirkte. Seither versuchte er, es zu vermeiden. »Er wird dir drohen«, sagte Titch nach einer Weile. »Wenigstens wird er es versuchen.«