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Allmählich schien der Schmerz nun doch an das Bewußtsein des Priesters zu dringen. Er krümmte sich, preßte die Hand auf die blutende Wunde in seinem Arm und versuchte etwas zu sagen, brachte aber nur ein unverständliches Keuchen zustande. Seine Augen waren voller Angst und wirkten wie Löcher in seinem Schädel, als er den Kopf hob und Skar ansah.

»Wer... wer bist du, Satai?« stöhnte er.

Skar antwortete nicht direkt, sondern stieg mit langsamen Bewegungen von seinem Thron herab, ging auf den knieenden Quorrl zu und streckte die Hand aus, wie um ihm auf die Füße zu helfen. Aber er führte die Bewegung nicht zu Ende, als er das Entsetzen in den Augen des Priesters sah, ein Entsetzen, das ihn töten würde, wenn er ihn auch nur berührte.

Mein bloßer Anblick tötet, dachte er bitter. Schon jetzt. Schon nach nur sieben Tagen. Was würde nach sieben Jahren sein - oder nach siebenhunderttausend? Was hast du mir angetan, Bruder? Einer der Krieger kam zurück, begleitet von einem kleinwüchsigen, hellgrün geschuppten Quorrl, der nur einen raschen Blick auf den zerfetzten Arm des Priesters warf und sich dann stumm und geschickt daran machte, die Wunde zu verbinden. Skar trat ein paar Schritte zurück und wartete. Der Quorrl schien große Schmerzen zu haben, aber er ertrug sie auf die Art seines Volkes: lautlos und ohne auch nur mit dem Augenlid zu zucken.

Als der Verband angelegt war, wollte der Heilkundige sich Skar zuwenden, denn auch seine Kleidung war voller Blut. Aber Skar schüttelte nur den Kopf und machte eine Geste, er solle gehen. Mochte der Quorrl glauben, er wäre nur leicht verletzt. Es wurde genug über ihn geredet, und er hatte es nicht mehr nötig, seinen Status als Gott (oder Teufel) zu beweisen.

Schließlich waren sie wieder allein; nur Rowl verharrte stur an seinem Platz neben dem Eingang.

»Warum hast du das getan?« flüsterte der Quorrl. »Um mir meine Machtlosigkeit zu beweisen?« Er lachte bitter. Etwas geschah mit seinen Augen, und plötzlich begriff Skar, daß er zum ersten Mal im Leben einen Quorrl weinen sah. Vielleicht war er der erste Mensch, der diesen Anblick erlebte. »Um mir zu zeigen, wie machtlos unsere Götter sind?«

Skar schüttelte den Kopf. »Um dir zu zeigen, daß sie lügen«, sagte er. »Sie behaupten, Götter zu sein, und sie beweisen es, indem sie euch ihre Unsterblichkeit demonstrieren.« Er schlug die geballte Faust auf die blutige Stelle seiner Brust, an der der Dolch eingedrungen war. »Auch ich bin unverwundbar. Hältst du mich deshalb für einen Gott?«

»Aber das ist unmöglich«, wimmerte der Quorrl. Er stand kurz davor, zusammenzubrechen. »Du kannst nicht -«

»Nichts ist unmöglich«, sagte Skar. »Nenne es Zauberei, wenn du willst - aber das ist es nicht.«

»Du bist ein Dämon«, flüsterte der Quorrl. »Du bist der, von dem geschrieben steht, daß er kommen und Enwor vernichten wird! Die Prophezeiung wird sich erfüllen!«

»Geh«, sagte Skar einfach. Er spürte, wie sinnlos es war, jetzt weiter zu reden. »Geh in Frieden, Priester, und rede mit ihnen. Sprich mit deinen Brüdern, und sprich mit deinen Göttern. Und dann entscheide, was dir wichtiger ist - dein Glaube oder das Leben deines Volkes.«

»Mein Volk!?« Der Quorrl gab einen Laut von sich, der wie ein kleiner Todesschrei klang. »Mein Volk, Satai? Du hast es bereits zerstört. Es gibt nichts mehr, was zu verteidigen sich lohnen würde. Cant wird niemals mehr sein, was es war, bevor du kamst.« Er zitterte. Unsicher drehte er den Kopf und starrte Rowl an, der noch immer reglos neben der Tür stand. »Du hast Cant vernichtet«, sagte er noch einmal. »Du hast die Zukunft unseres Volkes den Bastarden geschenkt.«

»Ja«, sagte Skar.

Und wieder war er allein. Es war Nacht geworden, schon vor Stunden, und vom Fluß drang das unermüdliche Hämmern und Sägen der Quorrl herauf, die mit Einbruch der Dämmerung mit dem Bau der Flöße begonnen hatten. Der Priester und seine Begleiter waren vor Stunden gegangen, und kurz darauf war Titch noch einmal zu ihm gekommen, mit irgendwelchen Fragen, an die er sich nicht mehr erinnerte; sowenig wie an seine Antworten.

Seither war er allein. Und er würde es bleiben, bis die Sonne wieder aufging und der Angriff auf die Verbotenen Inseln begann. Niemand hier - und Skar zuallerletzt - hatte wirklich geglaubt, daß die Priester auf sein Ultimatum eingehen und tatsächlich kapitulieren würden. Und trotzdem fieberte Skar vielleicht am meisten von allen dem Abend entgegen, und als das geschah, womit er im Grunde gerechnet hatte - nämlich nichts - war er vielleicht von allen am tiefsten enttäuscht. Wider jede Logik hatte er sich eingeredet, daß sie es vielleicht noch verhindern konnten; daß am Ende vielleicht doch noch die Vernunft über den Haß siegen und der Krieg Quorrl gegen Quorrl nicht stattfinden würde.

Aber hatte die Vernunft eigentlich jemals gesiegt?

Skar kannte die Antwort, so, wie er - fast - alle Antworten auf - fast - alle Fragen kannte. Enwor wäre nicht, was es war, hätte sie gesiegt, damals, in jener unvorstellbar alten Welt. Der Welt, deren Bote er war. Ein letzter Gruß ihrer Urahnen, um zu vollenden, was sie begonnen hatten. Er würde es tun. Das Wissen war schon lange in ihm gewesen, vielleicht seit Jahren, ganz bestimmt aber seit jenem schrecklichen Moment vor sieben - jetzt fast acht - Tagen, in dem er seinem Dunklen Bruder endgültig erlaubt hatte, Gewalt über ihn zu erlangen; aber es hatte erst der Worte des Predigers bedurft, ihm die Kraft zu geben, es sich einzugestehen: Du bist der Mann, von dem geschrieben steht, daß er Enwor vernichten wird.

Es war die Wahrheit. Er war nicht als Befreier gekommen. Er war der Zerstörer.

Skars Augen füllten sich mit brennenden Tränen, als jener winzige Teil in ihm, der noch Mensch war, die endgültige Wahrheit akzeptierte. Der Schläfer war niemals ein Beschützer gewesen. Kein unsichtbarer, allmächtiger Cherub, sondern der Vollender im bösesten, negativsten Sinne des Wortes. Wie die Sternenkreatur war auch er nichts als eine Waffe, ein brodelndes finsteres Ding aus den tiefsten Abgründen der menschlichen Seele, geschaffen zum Vernichten, und sonst nichts. Eine Waffe wie die Sternenkreatur. Ein Teil der Sternenkreatur, nur böser, gnadenloser, denn sie war nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus der letzten und unwiderstehlichsten Kraft der Schöpfung geschmiedet - der Seele.

Diesmal hatte er nicht mehr die Kraft, die Erinnerungen zurückzudrängen.

Es war so anders gewesen. So entsetzlich anders, als er erwartet hatte.

Wenn du mich noch willst, dann komm, Bruder, hatte er gedacht. Und der Daij-Djan war gekommen, ein schwarzer Sturm aus dem Nichts, ein Orkan aus Haß und unwiderstehlicher Kraft, der mit der Schnelligkeit und Gewalt eines Blitzes in seinen Leib und sein Bewußtsein gefahren war, ein finsterer Tornado, der die Zeit zum erstarren brachte und die Schwärze zwischen seinen Gedanken zum Leben erweckte. Er hatte ihn nicht unterworfen, sondern war an seinen Platz zurückgekehrt wie die verloren geglaubte Hälfte eines Talismanes, und aus Skar, dem Satai, und dem Daij-Djan, der Sternenbestie, war wieder geworden, was es vor Äonen gewesen war, ein Ganzes, das millionenfach mächtiger war als die Summe seiner einzelnen Teile. Er hatte seine Persönlichkeit nicht verloren, nicht einmal seine Erinnerungen oder sein Selbst, sondern etwas hinzugewonnen. Es war wie in jenem schrecklichen Moment in Drasks Burg gewesen - für Bruchteile von Sekunden, nicht einmal die Zeit, die der Gedanke brauchte, sich zu bilden, war er wieder in die entsetzliche Welt des Alptraumes hinabgetaucht, hatte die Stimmen der Alten gehört, und Wissen war in ihn geflossen, Wissen von ungeheurer, beinahe allumfassender Größe: Macht in seiner reinsten, erbarmungslosesten Form. Aber anders, als er geglaubt hatte, hatte sich sein Ich nicht in diesen Strudel fremder Empfindungen und Gedanken aufgelöst, sondern im Gegenteil ihn in sich aufgesogen, und aus Skar war wieder Skar geworden, gleichzeitig aber auch der Daij-Djan, und der Schläfer, der endlich erwacht war, um seinen uralten Auftrag zu erfüllen.