Er bückte sich nach seinem Mantel, streifte ihn wieder über und schloß ungeschickt die silberne Schnalle. Während er dies tat, wurde ihm klar, was für einen Kontrast das Kleidungsstück bilden mußte: der prachtvolle Zeremonienmantel des Kriegsherrn aller Satai über dem zerschrammten Lederharnisch eines einfachen Kriegers. Aber vielleicht, dachte er, auf eine hysterische Art belustigt, war er das ja jetzt auch: der Kriegsherr aller Satai, - und sei es nur, weil er vielleicht der letzte Satai war. Er hatte nichts mehr von Del und dem Heer gehört, seit sie die Ruinen Elays verlassen hatten. Aber alles, was seither geschehen war, hatte bewiesen, daß sie ihre Gegner nicht unterschätzen durften. Ihr beinahe totaler Sieg hier in Cant bedeutete nicht, daß auch Del und seine Begleiter ihr Ziel erreicht hatten.
»Ich frage mich, ob sie angekommen ist«, murmelte er.
»Wer?«
Er drehte sich zu Kiina um. »Das Mädchen«, sagte er. »Die junge Errish, die ich zu Del geschickt habe - ich habe ihren Namen vergessen.«
»Ich auch«, antwortete Kiina. »Aber ich weiß, was du meinst. Sie wird angekommen sein. Daktylen sind schnell.«
»Schneller als ein Pfeil? Oder ein Scannerblitz?«
Kiina machte eine wegwerfende Bewegung. »Du denkst zu viel, Hoher Herr«, sagte sie spöttisch. »Glaubst du wirklich, Ennart hätte es dir nicht gesagt, wenn es ihnen gelungen wäre, Dels Heer zu schlagen?«
Das war etwas, woran Skar noch gar nicht gedacht hatte. Aber er mußte Kiina recht geben. Der angebliche Gott war viel zu sehr von sich und seiner Allmacht überzeugt gewesen, um eine solche Nachricht für sich zu behalten.
Außerdem, flüsterte eine Stimme in seinen Gedanken, spielt es überhaupt keine Rolle, ob Del siegt oder nicht, ob Ikne befreit wird oder untergeht. Das Schicksal Enwors wird sich hier entscheiden. Hier und jetzt.
Er legte seinen Waffengurt um, zog das Schwert halb aus der zerschrammten ledernen Umhüllung und ließ es übertrieben wuchtig zurückfallen, ehe er sich wieder über die Truhe beugte. Sorgsam wählte er vier Shuriken aus, kleine, fünfzackige Wurfsterne mit rasiermesserscharfen Schneiden, befestigte sie in den dafür vorgesehenen Schlaufen seines Gürtels und nahm schließlich noch einen Dolch an sich. Die mattsilberne Scannerwaffe - eine von Tausenden, die sie aus den Waffenkammern Carans mitgenommen hatten, ließ er unberührt - wie die meisten. Skar hatte keinen entsprechenden Befehl gegeben, aber nur sehr wenige Quorrl hatten sich mit diesen fürchterlichen Waffen ausgerüstet. Wenn er es recht bedachte, dann war der Scanner an Kiinas Seite eigentlich der einzige, der ihm bewußt aufgefallen war. Es war gut so. Carans finstere Katakomben bargen noch andere Geheimnisse; Dinge (Waffen), die so fürchterlich waren, daß die Scanner der Ehrwürdigen Frauen dagegen wirken mußten wie eine Kerze gegen einen Waldbrand. Sie hatten - fast nur auf Kiinas Drängen hin - einiges davon mitgenommen, aber niemand machte Anstalten, es zu benutzen. Und Skar wußte auch, warum das so war. Wenn sie diesen Kampf gewinnen wollten, dann mit der Kraft ihrer Herzen und ihren Schwertern, nicht mit der gleichen Macht, der sie gegenüberstanden.
Sie verließen das Zelt und gingen zum Fluß hinunter; ein Weg von einer halben Stunde, den sie wortlos zurücklegten, und jetzt wieder in zwei Schritten Abstand. Trotzdem schien etwas Neues zwischen ihnen zu sein; eine Art von Vertrautheit, die Skar nicht zum ersten Mal in Kiinas Nähe spürte, aber sehr lange vermißt hatte. Und es war nicht nur Einbildung, nichts, was er sich nur selbst einzureden versuchte, denn als sie das Ufer des Ningara erreichten und Titch zu ihnen trat, zögerte der Quorrl den Bruchteil eines Atemzuges, und sein Blick wanderte fragend zwischen Skars und Kiinas Gesichtern hin und her. Dann, wie um eine Frage zu beantworten, die Skar noch gar nicht gestellt hatte, schüttelte er den Kopf und deutete gleich darauf ein Nicken an, ein Zeichen der Ehrerbietung, das Skar mehr schmerzte, als dem Quorrl klar sein mochte. Er wollte nicht Titchs Herr sein, sondern sein Freund. Aber vielleicht hatte er seinen Anspruch auf das Wort Freundschaft verwirkt, vor sieben Tagen. »Wie kommt ihr voran?« fragte er - sinnlose Worte, die einzig dem Zweck dienten, das Schweigen zu brechen. Er hatte selbst Augen, um zu sehen.
Trotzdem antwortete Titch: »Nicht so gut, wie ich es mir wünschte. Aber es wird reichen.«
Skar konnte Titchs Besorgnis nur zu gut verstehen. Er zweifelte nicht an ihrem Sieg, aber was er sah, machte ihm abermals und mit schmerzhafter Deutlichkeit klar, wie hoch die Opfer sein würden, die er verlangte. Möglicherweise gab es kaum ernstzunehmenden Widerstand von Priestern und den wenigen Gardesoldaten, die noch nicht geflohen, erschlagen oder kurzerhand zu ihrem Heer übergelaufen waren - aber die Verbotenen Inseln brauchten auch keine klug ausgedachte Verteidigung - sie selbst waren ihr bester Schutz. Inmitten des fast zwei Meilen breiten Ningara gelegen, war es beinahe unmöglich, sie zu erreichen. Die Hälfte ihrer Flöße würde von der Strömung zerbrochen oder über den Sturz gerissen werden, ehe sie den Inseln auch nur nahe kamen. Und ganz so naiv, wie Skar es sich gewünscht hatte, waren die Baumeister des Goldenen Tempels leider doch nicht gewesen: Zumindest schienen sie die Möglichkeit eines Angriffes bedacht zu haben, und selbst ein Narr konnte sich an zwei Fingern abzählen, aus welcher Richtung ein eventueller Feind kommen mußte. Es gab eine einzige, schmale Brücke, die über die reißenden Fluten führte, aber die begann auf der anderen Seite, dem nördlichen Ufer des Ningara.
Trotzdem hatten sie Holz genug - während der vergangenen vierundzwanzig Stunden hatten die Krieger die spärlichen Wälder auf dieser Seite des Flusses fast völlig abgeholzt und nicht einmal vor den Dach- und Stützbalken der wenigen Häuser haltgemacht, auf die sie stießen. Längs der glattgeschliffenen Kieselstein-Ufer des Ningara war eine mächtige Barriere aus Baumstämmen und Balken entstanden, aus der jetzt eine mächtige Flotte roher, aber äußerst massiv wirkender Flöße entstand. Das unablässige Hämmern, Sägen und Nageln mußte selbst über das Tosen des Sturzes hinweg zum Goldenen Tempel dringen, wie eine düstere Todesmelodie, die für die Verteidiger dort drüben den Untergang ihrer Welt einläutete.
»Das ist Wahnsinn«, murmelte er. »Die Hälfte der Krieger wird ertrinken.«
»Vielleicht gibt es einen anderen Weg«, sagte Titch. Skar sah ihn fragend an, und der Quorrl machte eine vage Handbewegung nach Westen. »Wir versuchen, ein Haltetau hinüber zu bringen«, erklärte er. »Rowl hat ein Dutzend seiner besten Männer ausgesucht, die mit einem Boot übersetzen werden. Wenn es ihnen gelingt, können wir versuchen, eine Kette zu spannen.«
»Über eine Meile?« fragte Kiina zweifelnd.
Titch zuckte mit den Schultern. »Hast du eine bessere Idee, Menschenjunges? Skar hat recht - die Strömung wird die Hälfte unserer Flöße in den Sturz reißen. Wenn nicht alle.«
»Es gibt eine Brücke«, erinnerte ihn Kiina.
»Auf der anderen Seite des Flusses«, entgegnete Titch gereizt. »Und selbst, wenn wir zwanzig Meilen flußaufwärts marschieren und an einer ungefährlichen Stelle übersetzen - ich kenne diese verdammte Brücke. Sie ist nicht mehr als ein Steg. Was sollte die Priester daran hindern, sie niederzubrennen - selbstverständlich erst, wenn unsere Krieger versuchen, sie zu benutzen?«
Kiina und Titch fuhren fort, so heftig aufeinander einzureden, daß zu einem richtigen Streit nicht mehr viel fehlte - aber Skar hörte kaum mehr hin. Sie hatten all diese Argumente - und Dutzende anderer - immer und immer wieder durchdiskutiert. Er hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, es selbst zu versuchen. Er war vielleicht der einzige, der eine Chance hatte, den Ningara lebend zu durchschwimmen - aber das Risiko war zu hoch. Die Chancen, daß er abgetrieben und über den Sturz gerissen wurde, standen unangenehm hoch. Und selbst, wenn er es unbeschadet überstand - sie würden Zeit verlieren. Zeit, die sie nicht hatten. »Wann?« fragte er knapp, als Kiina und Titch endlich aufhörten, sich gegenseitig mit Argumenten zu beschimpfen, die der eine so gut kannte wie der andere.