»Dann eben Ians Brüder«, antwortete Kiina erregt. »Und sie werden keine Hemmungen haben, sich mit allem zur Wehr zu setzen, was sie haben. Hast du vergessen, was uns Ennart in seinem Turm gezeigt hat?«
Aber Skar wußte, daß es nicht so war. Es war kein Zufall, daß ihre Gegner bisher darauf verzichtet hatten, die fürchterliche Macht ihrer Waffen gegen sie einzusetzen. Etwas war dort drüben, auf diesen Inseln, hier, am Ufer, vielleicht in diesem ganzen Land, das stärker war als die vergessene Technik der Alten. Kiina irrte sich - dieser Kampf würde genau so entschieden werden: Mann gegen Mann, und allenfalls Willen gegen Willen. Nicht Technik gegen Fleisch.
Skar antwortete nicht mehr, denn ihm war klar, daß Kiina ganz bestimmt nicht nachgeben würde, sondern drehte sich mit einem wortlosen Achselzucken um und folgte Titch.
Er fand ihn nur wenige Schritte flußabwärts, wo er in eine erregte Diskussion mit einigen anderen Quorrl verwickelt war. Als die Krieger Skar näher kommen sahen, brachen sie mitten im Wort ab und zogen sich zurück, was Titchs Zorn noch mehr zu schüren schien. Aber der Quorrl war nicht der einzige, der wütend war. Die Stimmung näherte sich allgemein dem Siedepunkt, und Skar fragte sich nicht zum ersten Mal, ob dies vielleicht einfach die Art der Quorrl war, Angst zu zeigen. »Hat sie dich überzeugt?« fragte Titch gereizt, als er näher kam.
Skar lächelte. »Nein - wenn sie auch in einem Punkt recht hat. Es wird schreckliche Opfer kosten, diese Inseln zu nehmen.«
»Es hat schreckliche Opfer gekostet, sie jahrtausendelang unberührt zu lassen«, knurrte Titch. Er schnitt Skar mit einer Geste das Wort ab, als er zu einer Antwort ansetzte. »Zerbrich dir nicht unseren Kopf, Satai. Es spielt keine Rolle, ob hundert sterben oder tausend oder fünftausend. Sie haben ebenso viele getötet, mit einer Handbewegung. Jede Woche, jeden Monat, jedes Jahr. Solange dieses Land besteht.«
Und vielleicht war es das erste Mal, daß Skar wirklich begriff, warum Titch und Rowl und all diese Quorrl bei ihm waren, warum ihr Heer kaum auf Widerstand stieß, sondern im Gegenteil immer mehr und mehr Quorrl zu ihnen überliefen. Dieser Krieg, der Aufstand der Quorrl und der Sturm auf die Verbotenen Inseln waren nichts, was spontan geschehen wäre. Möglicherweise hatte er es ausgelöst mit seinem Kommen, aber er war höchstens der Funke gewesen, der eine längst vorhandene Zündschnur in Brand setzte. Ein wichtiger Funke, ohne den es vielleicht noch einmal hundert oder auch hunderttausend Jahre gedauert hätte, ehe sich Titchs Volk gegen die Tyrannnei der Priesterkönige zur Wehr setzte, aber doch nicht mehr. Der Wille dazu war schon lange in ihren Herzen gewesen. Er erinnerte sich plötzlich der ohnmächtigen Wut, die er in Crons Augen gesehen hatte, der Verbitterung in Titchs Stimme, als er das erste Mal von den Bestimmern sprach, und tausend anderen Kleinigkeiten, die er kaum beachtet hatte, die aber mit einem Male Sinn ergaben. Es war, als hätte Titch seine Gedanken gelesen. »Hast du das wirklich geglaubt?« fragte er leise. »Hast du wirklich geglaubt, wir helfen dir, deinen Krieg zu gewinnen, Satai?« Er schüttelte den Kopf, und für einen Moment, einen winzigen, unendlich kostbaren Moment, sprach er wieder mit Skar, nicht mit dem Ding, in das er sich verwandelt hatte, und für die gleiche Zeitspanne war er wieder Titch, sein Freund, nicht Titch, der Führer des Quorrl-Heeres, der nur Skars Befehlen gehorchte. »Das Schicksal hat es so gewollt, daß unsere beiden Kämpfe zu einem wurden«, sagte er, »aber das ist Zufall, nicht mehr und nicht weniger. Wir werden zusammen siegen oder zusammen untergehen, aber wir kämpfen aus verschiedenen Gründen, Satai.«
»Und ich dachte -«
»Daß wir dir folgen?« Titch lachte. »Das ganze Volk der Quorrl für einen Menschen? Sei kein Narr, Skar. Ich weiß nicht, was du bist, aber ich weiß, was du nicht bist - nämlich ein Gott. So wenig wie Ennart und die anderen.«
Etwas ... geschah. In Skars Seele und drüben, auf den Inseln. Skar spürte es, wenn auch nur auf einer tieferen, seinem direkten Begreifen nicht zugänglichen Ebene seines Bewußtseins, aber er spürte zumindest, daß sich etwas ändert - im gleichen Moment, in dem ihm klar wurde, wie sehr er sich getäuscht hatte.
Es war so etwas wie der letzte Schritt, der sich in seinem Innern vollzog. Bei Titch - und in gewissem Maße auch bei Rowl - hatte dieser Prozeß schon stattgefunden, aber nun vollzog er sich bei jedem einzelnen dieser über dreitausend Quorrl-Krieger in seiner Nähe: er akzeptierte endgültig, daß die Quorrl keine Werkzeuge waren, keine ... Dinge, die er nach Belieben einsetzen und wie Figuren auf einem Brett herumschieben konnte, sondern lebende, denkende, fühlende Wesen, jedes einzelne dieser wandelden Gebirge aus Schuppen und Muskeln und Knochen ein lebendes Wesen wie er, mit einem Schicksal, mit Gedanken, Gefühlen, Zorn und Haß, so wichtig oder unwichtig wie er selbst, wie Kiina und Titch und alle anderen, denen er bisher Menschlichkeit zugebilligt hatte. Er hatte die Quorrl benutzt, um sich den Weg zu ebnen, aber Titch hatte recht - es war niemals ihr Kampf gewesen. Er hatte kein Recht, auch nur ein einziges weiteres Leben zu opfern, um an sein Ziel zu gelangen.
Und es war, als würde etwas tief, tief drinnen in seinem Innern auf diese Erkenntnis reagieren. Er hatte kein Recht, auch nur noch ein einziges Leben von Titch zu fordern. Er hatte es nie gehabt.
»Was hast du?« fragte Titch. Es klang alarmiert; erschrocken. Skar fuhr zusammen. Für die Dauer eines Herzschlages blickte er den Quorrl irritiert an, erst dann wurde ihm klar, daß seine Gedanken Besitz von seinem Gesicht ergriffen und es zur Grimasse hatten werden lassen.
»Nichts«, sagte er hastig. »Ich ... irgend etwas geschieht.«
»Etwas?« Titchs Augen wurden schmal.
Skar drehte sich abrupt um und sah zum Fluß hinüber. Die Inseln lagen wie eine schwarze Masse aus geronnener Nacht in der Mitte des zwei Meilen breiten Bandes, fast unsichtbar, wären die Kuppeln und Dächer aus Gold nicht gewesen, auf denen sich dann und wann ein verräterischer Lichtstrahl brach.
»Dort drüben?«, Titch trat neben ihn. »Glaubst du, sie werden -«
Der Fluß bewegte sich.
Skar spürte es, den Bruchteil einer Sekunde vor Titch, aber der Quorrl sah es früher als er, denn er brach mit einem erschrockenen Laut mitten im Wort ab und hob die Hand.
Es war keine Täuschung: der Fluß bewegte sich - genauer gesagt: etwas im Fluß bewegte sich, wenn auch nichts Konkretes, Faßbares. Skar spürte es, und Titch sah es, aber weder er noch der Quorrl konnten wirklich erkennen, was es war. Es war, als ... als wäre ein Teil des Wassers zu... etwas anderem geworden, etwas zugleich Körperlosem wie ungeheuer Mächtigem, das einen Teil der schäumenden, dahinschießenden Fluten in Bewegung brachte.
Und sie waren nicht die einzigen, die es merkten: mehr und mehr Quorrl hielten in ihrer Arbeit inne, starrten auf den Fluß hinaus oder begannen sich unruhig zu bewegen; einige Krieger flohen vor dem Ufer, über dem plötzlich etwas Unheimliches, Drohendes zu hängen schien, andere standen wie gelähmt. »Was ist das?« flüsterte Titch.
In das Tosen des Sturzes und das seidige Rauschen der Strömung mischte sich ein neuer Klang; ein Laut, den sie mehr mit den Körpern als mit dem Gehör aufnahmen; wie das Vibrieren eines Erdbebens, kurz, bevor der Schall sein Ziel erreichte. Der Boden zitterte nicht, aber es war ein Gefühl, als schüttelte sich die Wirklichkeit in Entsetzen vor dem, was der Fluß gebar. Etwas kam.
Dann sahen sie es. In der Oberfläche des Flusses entstanden neue Strudel und Wellen, winzige Spritzer und brüllend aufsteigende Schaumgeysire, wo sich das Wasser an dem neu aufgetauchten Hindernis unter seiner Oberfläche brach, und etwas Dunkles, ungeheuer Großes stieg vom Grund des Flußbettes empor; langsam, aber mit der unaufhaltsamen Kraft einer Naturgewalt. Großer Gott! dachte Skar. Habe ich das getan?