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Kiina wollte auf den letzten Drachen anlegen, aber Skar hielt sie abermals zurück.

Die riesige Göttergestalt war verschwunden, im gleichen Moment, in dem der erste Drache und mit ihm sein Reiter gestorben war, und die wenigen überlebenden Zauberpriester hatten sich vollends hinter das Tor zurückgezogen - aber keiner der Quorrl machte Anstalten, sie zu verfolgen. Eine tiefe, fast unheimliche Stille hatte sich über dem Hof ausgebreitet, die selbst das Prasseln der Flammen und das Stöhnen der Verwundeten und Sterbenden zu übertönen schien.

Skar zog langsam sein Schwert - nicht mehr, um zu kämpfen, sondern einfach als Geste, nur, weil es dazugehörte - und trat dem letzten verbliebenen Drachen und seinem Reiter entgegen. Er war nicht einmal erstaunt, als er in sein Gesicht sah und erkannte, daß es Ennart war. Sie alle waren Ennart.

Minutenlang standen sie einfach da und sahen sich an, der Satai, der kein Satai mehr war, und der Gott, der nie einer gewesen war. Dann, nach einer Ewigkeit, wie es Skar vorkam, stieg Ennart mit den mühsamen Bewegungen eines unendlich alten, unendlich müden Mannes vom Rücken seines bizarren Reittieres herab. Er kam Skar kleiner vor, als er ihn in Erinnerung hatte. Müder.

Titch und Kiina kamen näher, aber Skar hielt sie mit einer raschen Bewegung zurück. Der Ssirhaa gehörte Titch, aber es war noch nicht vorbei. Skar hatte seine Worte nicht vergessen. Was Elay widerfahren ist...

»Du Narr«, flüsterte Ennart. »Du verdammter, träumerischer Narr«, flüsterte er. »Weißt du, was du getan hast?« Seine Stimme bebte. Er versuchte sogar, Zorn in seine Worte zu legen, aber es gelang ihm nicht. Er hob die Hand, und Skar sah, daß sie nicht leer war - aber was er im ersten Moment für eine Waffe hielt, das war in Wahrheit ein flacher, mit zahlreichen kleinen rechteckigen Knöpfen versehener Kasten, an dessen vorderer Schmalseite ein dunkelrotes Licht wie ein pulsierendes Auge flackerte. »Ich sollte es tun«, flüsterte er. »Ich sollte euch alle zur Hölle jagen. Ihr...«

»Gib endlich auf, Ennart«, sagte Skar leise. »Du hast verloren.«

»Ja«, flüsterte Ennart. »Aber ihr auch. Es wird euch vernichten, Satai. Dich und deine Quorrl-Freunde und alle anderen. Weißt du, was du getan hast?« Er lachte; das schrille, hysterische Lachen eines Wahnsinnigen. »Du wolltest nicht, daß Enwor uns gehört? Du hast es dieser Kreatur geschenkt! Sie gehorcht uns nicht mehr, Satai. Sie wird euch alle töten! Sie wird diese Welt auffressen, wie sie es schon einmal fast getan hat!«

»Nein«, antwortete Skar ruhig. »Das wird sie nicht, Ennart. Und jetzt -« Er streckte die Hand aus und deutete auf das Kästchen. »- gib es mir.«

Der Ssirhaa zögerte.

»Es ist schon einmal geschehen, Ennart«, sagte Skar leise. »Du hast mir erzählt, wie Enwor war. Und du selbst hast mir erzählt, warum unsere Welt heute so ist, wie sie ist. Du kannst nicht wollen, daß das noch einmal passiert.«

»Warum erschlägst du diesen Hund nicht einfach?« fragte Titch. Ohne auf Skars warnenden Blick zu achten, trat er näher und riß sein Schwert aus dem Gürtel. »Was hat er da? Was ist das schon? Eine weitere Teufelswaffe? Eine weitere Lüge?«

»Nein«, antwortete Skar leise. »Es ist das, was Elay vernichtet hat.«

Titch erbleichte, und Kiina hob erschrocken die Hand an den Mund, sagte aber nichts.

»Und es kann ganz Enwor vernichten, nicht wahr?« fuhr Skar fort. »Eine Bewegung deiner Hand, Ennart, und Enwor brennt. Unsere Welt wird ein zweites Mal untergehen.«

Ennart lachte. Seine Finger glitten über das so harmlos aussehende Kästchen, senkten sich auf eine der kleinen Tasten - und zogen sich wieder zurück. Skar unterdrückte im letzten Moment einen erschrockenen Ausruf, als er das Gerät achtlos vor ihm zu Boden warf.

»Ihr Narren!« kicherte Ennart. »Ihr verdammten, blinden Narren! Ihr wißt ja nicht, was ihr getan habt! Ich wollte, ich könnte dabei sein, um eure Gesichter zu sehen! Bei Gott, ich wollte, ich könnte es.«

Skar bückte sich, hob das Kästchen vorsichtig auf und gab es Kiina, und Titch hob sein Schwert mit beiden Händen und enthauptete Ennart mit einem einzigen Hieb.

26.

Der Raum lag tief unter dem Allerheiligsten des Tempels, ein Würfel von vielleicht dreißig Schritten Kantenlänge, der aus dem gewachsenen Fels unter dem Flußbett herausgemeißelt worden sein mußte, denn die gewendelte Treppe hatte sie Hunderte und Aberhunderte von Stufen weit in die Tiefe geführt.

Es war kalt hier unten. Kalt und feucht und düster. Das unheimliche rote Licht - die gleiche Art unheimlicher, aus dem Nichts kommender Helligkeit, wie sie sie auch in Elay und Caran erlebt hatten - regierte auch hier, aber es war matter, kaum mehr als ein Schimmer, der den Dingen sonderbar falsche Umrisse und ihren Bewegungen etwas Irreales gab. Und alles hier war alt. Unglaublich alt.

Die verborgene Treppe, die sie hinter der Götterstatue im Allerheiligsten des Tempels gefunden hatten, bestand aus massivem Granit, aber ihre Stufen waren ausgetreten wie die einer Stiege aus weichem Holz; zum Teil nur noch so dünn, daß Skar fast in Sorge gewesen war, ob sie das Gewicht der beiden Quorrl tragen würden. Die Luft war so verbraucht, daß das Atemholen weh tat, und jedes noch so winzige Geräusch weckte unheimliche, verzerrte Echos in dem schier endlosen Treppenschacht hinter ihnen.

Skar sah sich mit klopfendem Herzen um. Er hatte keine Angst, aber er spürte eine Erregung, wie sie wohl nur Entdeckern vorbehalten war. Selbst er, der fast alle Geheimnisse dieser uralten Welt kannte, konnte ein Gefühl von Ehrfurcht nicht ganz unterdrücken, als er sich vor Augen führte, daß er vielleicht der erste Mensch in der Geschichte dieses Planeten war, der diesen Raum betrat. Das Herz des Tempels, das Allerheiligste, der größte Schatz - und zugleich der Fluch - des Volkes, dem diese Welt gehörte.

Titch berührte ihn an der Schulter und deutete mit der anderen Hand auf eine halbrunde Tür in der der Treppe gegenüberliegenden Wand. Er sagte nichts; so, wie er auch auf dem Weg hier herunter kein einziges Wort gesprochen, ja, sich fast angstvoll bemüht hatte, nicht das winzigste Geräusch zu machen.

Skar fragte sich, was in den beiden Quorrl vorgehen mochte. Ganz egal, wie gegensätzlich Titch und Rowl waren, sie waren Quorrl, und sie standen am Eingang eines Ortes, an dem seit einer Million Jahren das Schicksal ihres Volkes entschieden worden war.

Titch machte eine fragende Geste, die Skar mit einem Nicken beantwortete. Aus den Augenwinkeln sah er, daß Kiina einen Schritt machte und losgehen wollte, aber Skar hielt sie mit einer fast erschrockenen Bewegung zurück. Und selbst Kiina schien den Zauber dieses Ortes zu spüren, denn sie versuchte nicht, sich loszureißen, sondern trat fast ehrfürchtig beiseite, als Rowl und Titch sich der niedrigen Tür näherten. Was immer dahinter liegen mochte - es stand den beiden Quorrl zu, es als erste zu sehen. Und zu entscheiden, was damit zu geschehen hatte. Sie würden warten, bis Titch oder Rowl zurückkamen, um sie zu holen.

Die beiden Quorrl verschwanden in dem schimmernden roten Licht jenseits des Durchganges, und obwohl Skar sie noch für Augenblicke sah, verschluckte die Stille das Geräusch ihrer Schritte, als hätten sie eine unsichtbare Barriere durchbrochen, hinter der die Gesetze dieser Welt nicht mehr galten.