Mike sah ihn betroffen an. Er weigerte sich noch immer zu glauben, daß es so war, aber die Tatsachen sprachen ihre eigene Sprache. Mike hätte vor Zorn und Enttäuschung am liebsten laut aufgeschrien. Er konnte es nicht fassen, daß Paul sie tatsächlich verraten haben sollte!
»Damit kommt er nicht durch!« sagte Ben entschlossen. »Er hat nur ein paar Minuten Vorsprung. Los, wir schnappen ihn uns!«
Mike wurde einfach mitgerissen, als sie losstürmten und hintereinander die Treppe hochpolterten. Sie kam ihm viel steiler vor als auf dem Weg nach unten, und auch viel länger. Mit Ausnahme Singhs waren sie alle außer Atem, ehe sie auch nur den halben Weg hinter sich gebracht hatten. Sie wurden immer langsamer - und blieben schließlich ganz stehen, kurz, bevor sie das Ende der Treppe erreichten. Allerdings nicht vor Erschöpfung oder Schwäche.
Wo vorher ein offener Durchgang gewesen war, da verwehrte ihnen nun eine Barriere aus Trümmern, Holz, Steinen und allerlei Abfällen den Weg. Sie war sichtbar in aller Hast errichtet worden und machte keinen sonderlich massiven Eindruck - aber als Mike als erster an dem Hindernis zu rütteln begann, drohte der ganze Trümmerberg ins Wanken zu geraten und auf sie herabzustürzen.
Singh schob Mike mit sanfter Gewalt zur Seite, bedeutete ihm und den anderen aber gleich darauf, ihm zu helfen. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, das Hindernis aus dem Weg zu räumen, aber sie mußten sehr vorsichtig sein, damit ihnen der ganze Kram nicht auf die Köpfe fiel, was auf der Treppe fatale Folgen gehabt hätte. So verloren sie weitere wertvolle Zeit, in der Pauls Vorsprung abermals wuchs.
Weit genug, wie sich zeigte. Sie stürmten weiter, kaum daß sie so viele Trümmer aus dem Weg geräumt hatten, um sich durch die entstandene Öffnung zu quetschen. Mit Riesenschritten durchquerte Singh die Maschinenhalle und jagte zum Strand hinunter. Mike und die anderen folgten ihm dicht auf den Fersen.
Sie kamen zu spät. Die Segeljacht lag nicht mehr dort, wo sie sie zurückgelassen hatten, sondern hatte sich schon ein gutes Stück vom Ufer entfernt, und sie schwenkte genau in diesem Moment herum und richtete den Bug auf die Mitte des Sees aus. Das große Segel hing schlaff vom Mast, aber Mike hörte das Tuckern des kleinen Motors, mit dem Paul das Boot in Bewegung gesetzt hatte.
Singh rannte, so schnell er konnte. Er stürmte den Strand hinunter und ins Wasser hinein, und für einige Augenblicke sah es sogar fast so aus, als könne er die Jacht noch einholen.
Doch auch das Schiff wurde schneller, und Singh würde das Rennen verlieren. Singh watete weiter, so rasch er konnte, warf sich schließlich nach vorne und versuchte, das Schiff mit kraftvollen Kraulbewegungen zu erreichen. Für einige Augenblicke hielt er sogar mit dessen Tempo mit, doch im Gegensatz zu ihm kannte der Motor des Schiffes keine Erschöpfung, während Singhs Kräfte rasch erlahmten. Schließlich gab er es auf. Einige Augenblicke lang verharrte er noch wassertretend auf der Stelle, dann machte er kehrt und kam zu ihnen zurückgeschwommen.
Auch Mike und die anderen waren bis an die Hüften ins Wasser hineingewatet. Mit vereinten Kräften halfen sie dem völlig erschöpften Sikh ans Ufer zurück.
»Dieser verdammte Verräter!« schimpfte Ben. »Ich habe ihm nie getraut, aber ihr habt ja nicht auf mich gehört!«
Die Worte trafen Mike wie Hiebe. Er konnte es nicht glauben, daß er sich so sehr in Paul getäuscht haben sollte; auch wenn er soeben gesehen hatte, was geschah. In seinen Augen war plötzlich ein heißes Brennen.
»Hoffentlich läuft er auf den Riffen auf und ersäuft, ehe sie ihn auffischen können«, fuhr Ben haßerfüllt fort. »Vielleicht fressen ihn ja auch die Fische.«
»Dann müßten sie schon an Land kommen«, sagte eine Stimme hinter ihnen.
Überrascht fuhren sie herum - und nicht nur Mikes Augen weiteten sich ungläubig, als er die Gestalt erblickte, die sich taumelnd und die rechte Hand gegen die Schläfe gepreßt aus dem Unterholz hinter ihnen erhob.
»Es tut richtig gut, wenn man hört, wie beliebt man ist«, sagte Paul gepreßt. Ein wenig Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor und lief über sein Gesicht. Als er auf sie zukam, stolperte er und wäre beinahe wieder gestürzt.
»Paul!« murmelte Mike fassungslos. »Du? Aber wer ist dann -?!«
»Na, wer fehlt denn noch?« murmelte Paul. »Dreimal darfst du raten.«
Mike verstand nichts mehr. Die Antwort auf Pauls Frage war klar, aber das war doch... »Unmöglich!« flüsterte er. »Miß McCrooder?«
»Ich habe gemerkt, daß sie sich davonschlich!« bestätigte Paul, »und bin ihr nach. Als ich sah, daß sie auf die Jacht wollte, habe ich sie zur Rede gestellt.«
»Und?« fragte Ben.
»Und?« Paul zog eine Grimasse und nahm die Hand herunter, und sie konnten sehen, daß über seinem rechten Auge eine kleine Platzwunde entstanden war. Die Haut darunter schimmerte dunkelviolett. In spätestens einer Stunde würde er eine gewaltige Beule haben. »Sie hat einen Stein aufgehoben und mir eins übergezogen. Schlaumeier!« sagte er, ganz bewußt Bens Lieblingsausdruck benutzend.
»Das ... das glaube ich nicht«, antwortete Ben verstört.
Paul grinste hämisch. »Recht hast du«, sagte er. »In Wahrheit habe ich Miß McCrooder umgebracht und ihre Leiche irgendwo im Dschungel verscharrt. Und auf dem Schiff da fährt einer der Männer meines Vaters, den ich mit an Bord geschmuggelt habe. Ich wundere mich eigentlich, daß ihr ihn nicht längst entdeckt habt. Ich hatte ihn in der rechten Hosentasche, weißt du?«
»Aber Miß McCrooder«, stammelte Mike. »Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn!«
Paul musterte erst das Blut auf seiner Hand, dann ihn finster. »Glaub es ruhig«, grollte er. »Oder laß es meinetwegen. Ich schätze, sehr bald kannst du sie selbst fragen - auf der LEOPOLD.«
»Dann war sie der Verräter«, sagte Ben grimmig. »Ich hatte also recht! Wir hatten einen Verräter unter uns. Sie hat die ganze Zeit für Winterfeld gearbeitet. Von Anfang an!«
»Ja, und du könntest dich jetzt vielleicht bei Paul entschuldigen«, sagte Juan. Bens Antwort bestand nur aus einem bösen Blick. Er gehörte eindeutig nicht zu den Menschen, die sich jemals für irgend etwas entschuldigten.
»Dafür ist jetzt keine Zeit«, mischte sich Singh ein. Er hatte sich wieder weit genug erholt, um aufstehen zu können. »Wir müssen zurück zu Trautman. Schnell!«
»Aber warum denn?« fragte Mike.
»Er darf die NAUTILUS nicht vernichten!« antwortete Singh, während er sich bereits umwandte. »Folgt mir - rasch!«
Mike setzte zu einer neuerlichen Frage an, aber Singh rannte bereits los - und trotz seiner Erschöpfung so schnell, daß er schon nach wenigen Augenblicken in der Maschinenhalle verschwunden war.
»Was ist denn mit dem los?« wunderte sich André. »Erst will er das Schiff mit aller Gewalt in die Luft jagen, und dann tut er so, als hinge unser Leben davon ab, daß es nicht passiert.«
»Winterfelds Leute werden nun früher hiersein, als wir es erwartet haben«, sagte Juan. »Die McCrooder zeigt ihnen garantiert die Passage.«
»Und?« fragte André. »Um so besser. Dann holen sie uns eben etwas eher von dieser Insel ab. Wo ist der Unterschied?«
Niemand wußte eine Antwort darauf - aber Mike hatte plötzlich ein sehr, sehr ungutes Gefühl. Irgend etwas sagte ihm, daß es einen Unterschied gab. Und daß vielleicht ihr Leben davon abhing.
Singh hatte Trautman längst erreicht, als sie zurück in den unterirdischen Hafen kamen, in dem die NAUTILUS lag. Die Höhle hatte sich verändert - unter der Decke war eine Anzahl großer Lampen angegangen, die das Wasser und den gigantischen Rumpf des Unterseebootes in blendend helles Licht tauchten, und Mike glaubte ein ganz sachtes Vibrieren zu spüren, als wären tief unter ihren Füßen gewaltige Maschinen angelaufen. Trautman und der Sikh standen unweit des Schiffes und unterhielten sich heftig gestikulierend miteinander. Beide waren einer Panik nahe.