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»Du meine Güte!« sagte Challenger und setzte sich auf den Rand eines Kanus. »In diesem Falle können Sie Ihren Weg fortsetzen, und ich werde Ihnen nach Belieben folgen. Wenn ich nicht der Anführer bin, können Sie auch nicht erwarten, daß ich Sie führe.«

Dem Himmel sei Dank, daß es wenigstens noch zwei normale Menschen - Lord John Roxton und mich - gab, die verhüten konnten, daß wir wegen der Launenhaftigkeit unserer Gelehrten mit leeren Händen umkehren mußten. Welcher Argumente, Beschwörungen und Erklärungen bedurfte es, bis wir sie besänftigt hatten! Dann war endlich Summerlee bereit, vorauszugehen. Challenger stapfte grollend hinterher. Durch einen glücklichen Zufall fanden wir zu diesem Zeitpunkt heraus, daß unsere Professoren die denkbar schlechteste Meinung von einem Dr. Illingworth in Edinburgh hatten. Das wurde unsere Rettung. Jede gefährliche Situation wurde nun dadurch entspannt, daß wir den Namen dieses schottischen Zoologen ins Gespräch brachten, und prompt bildeten unsere Freunde in ihrer Verachtung und Beschimpfung dieses gemeinsamen Gegners eine vorübergehende Allianz.

Als wir im Gänsemarsch am Ufer weiter vorrückten, bemerkten wir bald, daß der Fluß sich zu einem bloßen Bach verengte. Schließlich verlor er sich ganz in einem großen grünen Morast aus schwammigen Moosen, in den wir bis zu den Knien einsanken. Wolken von Stechmücken und alle möglichen Arten fliegender Insekten plagten uns. Wir waren froh, als wir uns wieder auf festen Grund gerettet hatten, und entschlossen uns zu einem Umweg durch den Wald.

Am zweiten Tag unseres Fußmarsches änderte sich der Charakter der Landschaft. Unser Weg führte beständig aufwärts. Die Wälder wurden spärlicher und verloren ihre tropische Üppigkeit. Die gewaltigen Bäume der AmazonasEbene wichen Phönix- und Kokospalmen, die in einzelnen Gruppen inmitten dichten Gebüschs standen. In den feuchteren Mulden breiteten Mauritia-Palmen ihre anmutig herabhängenden Wedel aus.

Wir gingen nur nach dem Kompaß. Einmal gab es M einungsverschiedenheiten zwischen Challenger und den beiden Indianern. Dabei vertraute, um Challengers Worte zu gebrauchen, die ganze Gesellschaft »den fehlerhaften Instinkten primitiver Wilder mehr, als dem Wissen eines feinnervigen Exponenten der modernen europäischen Kultur.« Am dritten Tag stellte sich heraus, daß Challenger recht gehabt hatte. Er konnte uns mehrere markante Punkte seiner Expedition vor zwei Jahren zeigen. An einer Stelle trafen wir auf vier vom Feuer geschwärzte Steine, die von einem Lagerplatz stammten.

Unser Weg stieg weiterhin an. Wir überquerten einen felsübersäten Abhang, wozu wir zwei Tage brauchten. Wieder hatte der Pflanzenwuchs sich verändert. Nur der Elfenbeinbaum blieb noch übrig, daneben herrliche Orchideen im Überfluß, darunter zuweilen die äußerst seltene Nuttonia Vexillaria. Vereinzelte Bäche mit steinigem Grund und farnbewachsenen Ufern gurgelten in flachen felsigen Betten und boten uns allabendlich gute Lagerplätze an den Ufern von Felstümpeln. Schwärme von Fischen mit blauem Rücken - ungefähr von der Größe und Form der Forelle - lieferten uns schmackhafte Mahlzeiten.

Am neunten Tag nach Verlassen der Kanus - wir hatten etwa hundertzwanzig Meilen zurückgelegt - gab es auch keine Bäume mehr, nur noch Gestrüpp, das schließlich in eine Bambuswildnis überging, die so dicht war, daß wir uns mit Macheten einen Pfad bahnen mußten. Wir brauchten einen ganzen Tag, von sieben Uhr morgens bis acht Uhr abends mit nur zwei Pausen von je einer Stunde, um dieses Hindernis zu überwinden.

Etwas Eintönigeres und Ermüdenderes kann man sich nicht vorstellen. Sogar an den lichtesten Stellen konnte ich nicht weiter als zehn bis zwölf Meter sehen. Für gewöhnlich beschränkte sich mein Gesichtsfeld auf die Rückseite von Lord Johns Baumwolljacke vor mir und die gelbe Mauer zu beiden Seiten. Fünfzehn Fuß über unseren Köpfen sahen wir die Rohre gegen einen tiefolauen Himmel schwanken. Welche Lebewesen ein solches Dickicht bewohnen, weiß ich nicht; wir hörten lediglich mehrere Male, wie große, schwere Tiere ganz in unserer Nähe es durchbrachen. Aus den Geräuschen schloß Lord John, daß es sich um eine Büffelart handelte. Bei Einbruch der Abenddämmerung kamen wir aus dem Bambusgürtel heraus und schlugen un-ser Lager auf, erschöpft von diesem arbeitsreichen Tag.

Früh am nächsten Morgen waren wir wieder auf den Beinen und stellten fest, daß der Charakter der Landschaft sich abermals verändert hatte. Hinter uns stand die Bambusmauer, so scharf begrenzt, als folge sie einem Flußlauf. Vor uns eine freie Ebene, die leicht anstieg und mit Büscheln von Baumfarnen bewachsen war. Gegen Mittag erreichten wir einen langen Kamm. Es folgte ein flaches Tal, das wiederum zu einer sanften Anhöhe anstieg. Als wir den ersten dieser Hügel überquerten, trat ein Ereignis ein, das ebensogut bedeutungsvoll wie unwichtig gewesen sein konnte.

Challenger, der mit seinen zwei Indianern die Vorhut unserer Gruppe bildete, blieb plötzlich stehen und zeigte aufgeregt nach rechts. Als wir aufolickten, sahen wir in einer Entfernung von ungfähr einer Meile etwas Ähnliches wie einen riesigen grauen Vogel mit schwerem Flügelschlag vom Boden aufsteigen und sanft davongleiten. Er flog sehr niedrig und geradlinig und verschwand hinter den Baumfarnen.

»Haben Sie das gesehen?« rief Challenger triumphierend. »Summerlee, haben Sie das gesehen?«

Professor Summerlee starrte noch immer auf die Stelle, an der das seltsame Wesen verschwunden war. »Was war das Ihrer Meinung nach?« fragte er.

»Ein Pterodactylos, dafür lege ich die Hand ins Feuer.«

Summerlee brach in höhnisches Gelächter aus. »Ein Pteroquatschylos!« wieherte er. »Ein Storch war das, ein ganz gewöhnlicher Storch.«

Challenger war so wütend, daß es ihm die Rede verschlug. Er schwang sich sein Bündel über die Schulter und marschierte weiter.

Lord John kam zu mir nach vorn, und sein Gesicht war ernster als üblich. Er trug sein Zeißglas in der Hand.

»Ich habe das Ding noch ins Blickfeld bekommen, bevor es weg war«, sagte er. »Ich möchte mich nicht festlegen, aber ich wette meinen Ruf als Sportsmann, daß mir so ein Vogel noch nie unter die Augen gekommen ist.«

So liegen die Dinge also. Stehen wir wirklich direkt am Rande des Unbekannten, stoßen wir bereits auf die Vorposten jener verschollenen Welt, von der unser Anführer erzählt? Ich schreibe Ihnen den Vorfall so auf, wie er sich zugetragen hat, und damit wissen Sie genausoviel wie ich. Es blieb übrigens der einzige dieser Arb. Und nun, liebe Leser, habe ich Sie den breiten Fluß hinaufgeführt, durch das grüne Schilf hindurch, den grünen Tunnel entlang, den langen palmenbewachsenen Abhang hinauf, durch das Bambusgestrüpp und über die Ebene mit den Baumfarnen. Endlich liegt unser Ziel vor uns. Als wir nämlich den zweiten Hügelkamm erstiegen hatten, erblickten wir vor uns eine unregelmäßige, palmenbewachsene Ebene und dahinter die Linie der hohen roten Klippen, die ich schon vom Bild her kannte.

Die Ebene läuft bogenförmig links und rechts von uns und erstreckt sich über das ganze Blickfeld. Challenger stolziert umher wie ein preisgekrönter Pfau, und Summerlee ist still geworden, aber immer noch skeptisch. Der nächste Tag wird wohl einige unserer Zweifel klären. Inzwischen will ich diesen Brief mit Jose zurückschicken. Er hat sich den Arm an zersplittertem Bambus verletzt und besteht darauf, umzukehren. Wir hoffen, daß er den Weg zurück findet.

Ich füge dem Brief eine Kartenskizze bei, die den Weg zeigt, den unsere Expedition bisher genommen hat, seit wir den Amazonas verließen.

9

Wer hätte das voraussehen können?

Etwas Schreckliches ist geschehen. Wer hätte das voraussehen können? Das Ende unserer Notlage ist nicht abzusehen. Wir sind möglicherweise dazu verurteilt, den Rest unseres Lebens an diesem seltsamen, unzugänglichen Ort zu verbringen. Ich bin noch dermaßen verwirrt, daß ich weder unsere gegenwärtige Situation noch unsere Aussichten für die Zukunft ganz überschauen kann. Meinen betäubten Sinnen erscheint beides äußerst gefährlich und schwarz wie die Nacht.