Die Klippen hatten ihre rötliche Färbung verloren und waren nun schokoladenbraun. Die Vegetation war spärlicher geworden und die Höhe der Felskante auf drei- oder vierhundert Fuß abgesunken. Aber an keiner Stelle konnten wir einen Punkt entdecken, von dem aus sich ein Aufstieg versuchen ließ.
»Es muß doch irgendwie Wasserrinnen in den Felsen geben«, sagte ich bei unserer Lagebesprechung. »Irgendwo muß das Regenwasser abfließen.«
»Unser junger Freund hat lichte Momente«, meinte Professor Challenger darauftin und klopfte mir wohlwollend auf die Schulter.
»Irgendwo muß das Regenwasser doch abfließen«, wiederholte ich.
»Normalerweise schon«, sagte Professor Challenger. »Leider konnten wir aber aller Logik zum Trotz keine Wasserrinnen entdecken.«
»Wo bleibt dann das Regenwasser?« fragte ich.
»Wenn es nicht nach außen ablaufen kann, dann wird es wohl nach innen ablaufen.«
»Demnach müßte es auf dem Plateau einen See geben.«
»Das ist anzunehmen.«
»Und es ist weiterhin anzunehmen«, sagte Professor Summerlee, »daß sich das Wasser in einem alten Krater sammelt, denn die Formation dieser Landschaft ist weitgehend vulkanischen Ursprungs. Ich nehme an, daß das Plateau zu seiner Mitte hin abschüssig ist und sich dort ein großes Wasserbecken befindet, das einen unterirdischen Ablauf hat, der sich möglicherweise in den Jaracara-Sumpf ergießt.«
»Oder der Ausgleich geschieht durch Verdunstung«, sagte Challenger, worauftin die beiden Gelehrten innerhalb von Sekunden in eine ihrer üblichen wissenschaftlichen Diskussionen verwickelt waren, bei denen Lord John und ich passen mußten.
Am sechsten Tag hatten wir den Rundmarsch um das Felsplateau hinter uns und erreichten wieder unseren Lagerplatz an der freistehenden Felsenzinne. Wir hatten das Gelände mit einer Genauigkeit durchforscht, die nicht zu überbieten war, hatten aber nirgends eine Stelle entdecken können, an der ein Aufstieg möglich gewesen wäre, und dieses Ergebnis war mehr als deprimierend. Und durch die Schlucht einzusteigen, wie es Maple White offensichtlich getan hatte, das kam nicht in Frage - darüber waren wir uns einig.
Was sollten wir tun? Über unsere Vorräte an Proviant machten wir uns zu dem Zeitpunkt noch keine Gedanken. Wir hatten auf unserem Weg alles Genießbare erlegt, was uns vor den Lauf unserer Flinten gekommen war, und hatten dadurch wenig Konserven verbraucht. Trotzdem würde der Tag kommen, wo auch diese zur Neige gingen. Dazu kam, daß in sechs bis acht Wochen die Regenzeit beginnen und unser Lager wegschwemmen würde. Der Felsen war hart wie Marmor, und wir versuchten nicht einmal, Stufen hineinschlagen zu wollen. Weder die Zeit noch unsere Geräte reichten aus, auf diese Weise die Felsen bezwingen zu wollen.
Kein Wunder also, daß an jenem Abend die Stimmung auf den Nullpunkt gesunken war und wir in unsere Decken krochen, ohne viel gesprochen zu haben.
Als mir die Augen zufielen, saß Professor Challenger noch am Feuer und war tief in Gedanken versunken. Er hatte nicht einmal mit dem Kopf genickt, als ich ihm eine gute Nacht gewünscht hatte. Wahrscheinlich hatte er es gar nicht gehört.
Am nächsten Morgen jedoch war er wie verwandelt. Er war die Zufriedenheit und Zuversicht in Person. Beim Frühstück mimte er den Mann, der sich ständig in Bescheidenheit übt, aber sein energisch nach vorn gerecktes Kinn, die geschwellte Brust bewiesen, daß der Schein trog.
Wie Napoleon steckte er eine Hand in seine Jacke und sah uns herausfordernd an. »Meine Herren«, sagte er. »Sie können mir gratulieren, und wir können uns gegenseitig beglückwünschen. Das Problem ist gelöst.«
»Heißt das, daß Sie eine Möglichkeit gefunden haben, auf das Plateau zu kommen?«
»Jawohl - das heißt es.«
»Und wie?«
Wortlos deutete Professor Challenger auf die kirchturmartige Felszinne, an deren Fuß wir kampierten.
Wir blickten an ihr hoch, und unsere Gesichter wurden länger und länger. Der Fels mochte tatsächlich zu erklimmen sein, aber zwischen ihm und der Felswand gähnte ein unüberwindbarer Abgrund.
»Da kommen wir doch nie rüber«, sagte ich.
»Aber rauf können wir erst einmal«, sagte der Professor. »Und wenn wir droben sind, dann kann ich Ihnen vielleicht beweisen, daß ein erfinderischer Geist Unmögliches möglich machen kann.«
Nach dem Frühstück wurde Professor Challengers Kletterausrüstung ausgepackt. Ein starkes, leichtes Seil von hundertfünfzig Fuß Länge, Steigeisen, Haken und anderes Gerät kamen zum Vorschein.
Lord John war ein erfahrener Bergsteiger, und auch Professor Summerlee hatte schon so manche schwierige Gebirgstour hinter sich, womit ich der einzige war, der keine Erfahrung auf diesem Gebiet hatte und sich lediglich auf seine Kondition und Geschicklichkeit verlassen mußte.
So schwierig war es eigentlich gar nicht, wobei es jedoch Momente gegeben hat, wo mir die Haare zu Berge gestanden sind. Die erste Hälfte war problemlos, doch dann wurde der Felsen immer steiler, bis wir uns bei den letzten fünfzig Fuß buchstäblich mit Fingern und Zehen an winzigen Vorsprüngen und Spalten festklammern mußten. Wenn Challenger den Gipfel nicht erreicht und dort das Seil an den Stamm des Baumes befestigt hätte, wären Professor Summerlee und ich kurz vor dem Ziel hängen geblieben. Doch mit Hilfe des Seils gelang es uns, das letzte Stück Steilwand zu überwinden, und so standen auch wir schließlich auf der kleinen, grasbewachsenen Fläche von höchstens fünfundzwanzig Fuß Durchmesser.
Der Ausblick über das Land, das wir durchquert hatten, war ungemein überwältigend. Die ganze brasilianische Ebene schien unter uns zu liegen und sich bis ins Unendliche auszudehnen, bis sie sich schließlich am Horizont in blauen Dunst auflöste. Im Vordergrund der langgestreckte, mit Felsbrocken und Baumfasern gespickte Hang, im Mittelfeld, noch eben über dem Rücken des Hügels sichtbar, das Bambusdickicht, durch das wir uns gearbeitet hatten. Dahinter wurde die Vegetation immer reicher, bis sie sich schließlich zum Urwald verdichtete, der sich so weit erstreckte, wie das Auge reichte.
Fasziniert betrachtete ich dieses Panorama, als mir plötzlich Professor Challenger eine Hand auf die Schulter legte.
»Umdrehen, junger Mann«, sagte er. »Nie zurückblik-ken, sondern immer nach vorn auf das glorreiche Ziel.«
Ich drehte mich um und fand mich auf gleicher Höhe mit der Oberkante des Plateaus. Die grüne Fläche aus Gebüsch und vereinzelten Bäumen war so nah, daß es unbegreiflich schien, wie unerreichbar dieses Land nach wie vor für uns war, doch an die vierzig Fuß trennten uns davon. Ich hielt mich an dem Baumstamm fest und beugte mich über den Abgrund. Tief unter mir die Gestalten unserer Lastenträger. Sie blickten zu uns herauf. Die Wand unter mir fiel senkrecht ab, genau wie die Klippen gegenüber.
»Das ist wirklich sehr, sehr merkwürdig«, sagte Professor Summerlee mit knarrender Stimme.
Ich drehte mich um und sah, daß er mit großem Interesse den Baum betrachtete, an dem ich mich festhielt. Die glatte Rinde und die gerippten Blätter kamen mir bekannt vor.
»Wenn das keine Buche ist«, rief ich, »war meine ganze Schulzeit umsonst.«
»War sie nicht«, sagte Professor Summerlee. »Eine alte Bekannte in einem fremden Land.«
»Nicht nur das, mein Lieber«, sagte Professor Challenger, »sondern gleichzeitig eine Verbündete - wenn ich mich einmal so ausdrücken darf. Diese Buche soll unser Problem lösen.«
»Natürlich!« rief Lord John. »Eine Brücke.«