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»Genau - eine Brücke. Ich habe mir vergangene Nacht schließlich nicht umsonst den Kopf darüber zerbrochen, wie wir auf das Plateau kommen. Ich habe zu unserem jungen Freund hier einmal gesagt, daß der alte G.E.Ch. sich selbst übertriffi, wenn er vor einem angeblich unlösbaren Problem steht. Sie werden zugeben, daß wir gestern abend alle der Meinung waren, die Situation sei ausweglos. Aber wo Wille und Intellekt zusammenkommen, da gibt es immer eine Lösung. Die Schwierigkeit mußte überbrückt werden, im wahrsten Sinne des Wortes, und hier ist die Brücke.«

Es war wirklich die rettende Idee. Der Baum hatte gut seine sechzig Fuß Höhe, und wenn er auf die richtige Seite stürzte, überbrückte er leicht den Abgrund. Beim Aufstieg hatte sich Professor Challenger die Axt über die Schulter gehängt, und jetzt drückte er sie mir in die Hand.

»Unser junger Freund hier hat die nötige Kraft und Ausdauer«, sagte er. »Ich denke, er eignet sich am besten für diese Aufgabe. Und nun noch eine dringliche Bitte: stellen Sie ab sofort jedes selbständige Denken ab und tun Sie nur genau das, was ich Ihnen sage.«

Unter seiner Anleitung schlug ich seitlich Kerben in den Baumstamm, der bereits von Natur aus eine Neigung zum Plateau hin hatte, wodurch praktisch garantiert war, daß er in die gewünschte Richtung stürzen würde.

Ich kam ordentlich ins Schwitzen und nahm Lord Johns Angebot, sich mit mir abzuwechseln, gerne an. Nach etwa einer Stunde neigte sich der Baum vornüber, brach, stürzte und bohrte seine Äste in die Büsche auf der anderen Seite. Einen Moment lang dachten wir, es wäre alles umsonst gewesen, denn der Stamm rollte bis kurz vor den Rand der kleinen Felsplattform. Er blieb jedoch einige Zoll vor der Kante liegen, und so hatten wir unsere Brücke ins Unbekannte.

Wortlos schüttelten wir einer nach dem anderen Professor Challenger die Hand, während dieser den Strohhut zog und sich vor jedem verbeugte.

»Ich verlange, als erster hinüberzugehen«, sagte er. »Finden Sie nicht, daß dieser Moment auf einem Gemälde festgehalten werden müßte?«

Der Professor setzte den Fuß auf den Stamm, aber Lord John hielt ihn zurück.

»Das kann ich leider nicht zulassen, verehrter Professor«, sagte er.

»Nicht zulassen?« wiederholte Challenger und reckte grimmig den Bart nach vorn.

»Solange es sich um wissenschaftliche Dinge handelt, ordne ich mich Ihnen unter, das wissen Sie«, sagte Lord John. »Aber Sie haben sich mir unterzuordnen, wenn etwas in mein Ressort fällt.«

»In Ihr Ressort?«

»Jeder von uns hat seinen Beruf, und meiner ist nun einmal der des Soldaten. Wenn ich die Situation richtig einschätze, sind wir im Begriff, ein fremdes Land zu erforschen, das vom Feind besetzt sein kann. Sich aus Mangel an gesundem Menschenverstand und Geduld blindlings da hineinzustürzen, entspricht nicht meinen Vorstellungen von Kriegsführung.«

Challenger nahm die Argumente lächelnd hin. »Und was schlagen Sie vor, Lord John?« fragte er.

»Wer weiß, ob nicht eine Bande von Kannibalen in den Büschen hockt und auf ein gutes Mittagessen wartet«, antwortete Lord John. »Wenn man nicht in den Kochtopf wandern will, sollte man sich erst Gewißheit verschaffen. Wir wollen zwar hoffen, daß uns da drüben nichts Unliebsames erwartet, werden uns aber so verhalten, als wäre es der Fall. Malone und ich werden also wieder runterklettern und die vier Gewehre, Gomez und die anderen herauftolen. Anschließend kann einer von uns über den Baumstamm gehen, während die anderen ihm Schützenhilfe leisten. Erst wenn feststeht, daß nichts passieren kann, kommen die anderen nach.«

Challenger setzte sich auf den Baumstamm und stöhnte vor Ungeduld, aber Professor Summerlee und ich waren derselben Meinung und fanden, daß man sich nach den Anweisungen Lord Johns richten sollte, wenn es um praktische Dinge ging. Jetzt, wo uns an der schlimmsten Stelle das Seil zur Verfügung stand, war das Klettern bedeutend einfacher. Es dauerte eine knappe Stunde, bis die vier Gewehre und eine zusätzliche Schrotflinte nach oben ge-schaffi waren. Auch die Mischlinge waren auf die Felszinne geklettert. Auf Lord Johns Anweisung hin hatten sie sogar Verpflegung mitgebracht, denn wir konnten ja nicht wissen, wie lange sich der erste Erkundungsgang ausdehnen würde.

Jeder von uns schnallte sich Patronengurte um.

»So, Professor Challenger«, sagte Lord John, als alle Vorbereitungen getroffen waren. »Wenn Sie wirklich der erste sein wollen, der den Fuß auf das unbekannte Land setzt, dann darf ich bitten.«

»Zu großzügig von Ihnen«, sagte der Professor. »Wenn Sie mir schon die Erlaubnis erteilen, werde ich die Gelegenheit ergreifen und - wie immer - Pionierarbeit leisten.«

Er schwang sich das Beil über die Schulter, hockte sich so auf den Baumstamm, daß links und rechts ein Bein herunterbaumelte, und hoppelte in dieser Stellung über die Brücke.

Auf der anderen Seite angekommen, warf er die Arme in die Luft.

»Endlich!« rief er zu uns herüber. »Endlich ist es soweit.«

Besorgt sah ich zu ihm hinüber. Ich hatte Angst, daß sich jeden Augenblick etwas Furchtbares aus dem grünen Vorhang lösen und auf ihn stürzen könnte. Aber alles blieb ruhig. Nur ein sonderbarer buntschillernder Vogel flog vom Boden auf und verschwand in den Bäumen.

Summerlee ging als zweiter. Die zähe Energie in seinem zerbrechlichen Körper war bewundernswert. Er bestand darauf, sich zwei Gewehre umzuhängen. So waren beide Professoren bewaffnet, als er drüben ankam. Der nächste war ich. Ich gab mir große Mühe, nicht nach unten in die schreckliche Tiefe zu blicken. Summerlee hielt mir seinen Gewehrkolben hin, und einen Augenblick später ergriff ich seine ausgestreckte Hand. Dann kam Lord John. Er ging hinüber - aufrecht, ohne jede Stütze! Er muß Nerven aus Stahl haben.

Nun waren wir alle vier im Traumland angelangt, in der verschollenen Welt des Maple White. Wir alle empfanden dies als den Augenblick größten Triumphes. Wer hätte vermutet, daß er der Auftakt zu unserem tiefsten Unglück war?

Wir hatten uns vom Rande entfernt und waren etwa fünfzig Meter weit durch dichtes Gebüsch vorgedrungen, als wir hinter uns ein fürchterliches Krachen hörten. Wie ein Mann stürzten wir an unseren Ausgangspunkt zurück. Die Brücke war nicht mehr da!

Ich beugte mich vor und sah weit unten, am Fuß der Klippen, eine Masse von Ästen und zersplittertem Holz. Das war unsere Buche! War der Rand der Plattform abgebröckelt und hatte den Baum abrutschen lassen? Für einen Augenblick schien uns dies die einzig mögliche Erklärung. Aber dann schob sich an der uns abgewandten Seite des Felsenturms ein dunkelhäutiges Gesicht hervor: das Gesicht von Gomez, dem Mestizen. Ja, es war Gomez. Aber nicht mehr der Gomez mit dem beflissenen Lächeln und dem maskenhaften Gesicht. Dieses Gesicht hatte flammende Augen und verzerrte Züge voll Haß und Hohn.

»Lord Roxton!« brüllte er. »Lord John Roxton!«

»Ja«, sagte dieser, »hier bin ich.«

Ein brüllendes Gelächter drang über den Abgrund zu uns. »Ja, da bist du, du englischer Hund, und da sollst du auch bleiben! Ich habe gewartet und gewartet. Jetzt endlich ist meine Stunde gekommen. Es war schwer genug für euch, da hinaufzuklettern; ihr werdet es aber noch schwerer haben, wieder herunterzusteigen. Ihr verdammten Narren, jetzt sitzt ihr in der Falle, ihr alle!«

Wir waren zu überrascht, um antworten zu können. Das Gesicht verschwand, kam aber gleich wieder zum Vorschein.

»Wir hätten euch beinahe schon mit dem Stein bei der Höhle erwischt«, schrie Gomez. »Aber so ist es noch viel besser. Es geht langsamer und qualvoller. Eure Knochen werden da oben ausbleichen, und kein Mensch wird wissen, wo ihr liegt. Niemand wird kommen, euch zu begraben. Und wenn du im Sterben liegst, Roxton, dann denk an Lopez, den du vor fünf Jahren am Putomayo-Fluß erschossen hast. Ich bin sein Bruder. Jetzt kann ich beruhigt sterben. Ich habe ihn gerächt.«

Hätte der Mischling es damit bewenden lassen und schleunigst das Weite gesucht, so wäre alles gut abgelaufen für ihn. Sein törichter, südländischer, unwiderstehlicher Hang zum Dramatischen jedoch sollte ihm zum Verhängnis werden. Roxton war nicht der Mann, den man ungestraft herausfordern konnte. Der Mestize stieg auf der uns abgekehrten Seite der Felsnadel ab. Aber ehe er den Boden erreichen konnte, war Lord John am Rande des Plateaus entlanggelaufen und hatte eine Stelle gefunden, von der aus er den Mann sehen konnte. Seine Flinte krachte ein einziges Mal. Wir konnten zwar nichts sehen, hörten aber den Schrei und darauf den fernen Aufschlag des abstürzenden Körpers. Roxton kam mit steinernem Gesicht zu uns zurück.