Jeder schüttelte mir anerkennend die Hand. Bevor wir die Einzelheiten der Karte näher besprachen, mußte ich über meinen Zusammenstoß mit dem Affenmenschen in den Ästen berichten.
»Er muß schon die ganze Zeit über dort gewesen sein«, sagte ich.
»Woher wissen Sie das?« fragte Lord John.
»Weil ich schon die ganze Zeit das Gefühl hatte, daß uns irgend jemand beobachtete. Ich habe es Ihnen gegenüber erwähnt, Professor Challenger.«
Der Professor nickte. »Unser junger Freund hat tatsächlich etwas Derartiges gesagt. Er ist ja auch als einziger von uns mit dem keltischen Temperament begabt, das ihn für derartige Wahrnehmungen empfänglich macht.«
»Diese ^eorien über Telepathie ...«, schnaubte Summerlee geringschätzig und stopfte sich seine Pfeife.
»Sind zu umfangreich, um hier diskutiert zu werden«, schnitt ihm Challenger mit Bestimmtheit das Wort ab. »Und jetzt sagen Sie einmal, junger Mann, haben Sie zufällig beobachtet, ob dieses Wesen imstande ist, den Daumen über die Handfläche zu kreuzen?«
»Nein, habe ich nicht.«
»Besitzt es einen Schwanz?«
»Nein.«
»Hat es Füße, mit denen es greifen kann?«
»Ich glaube nicht, daß es so schnell hätte die Flucht ergreifen können, wenn es keinen festen Halt mit den Füßen gehabt hätte.«
» Falls mich mein Gedächtnis nicht im Stich läßt, gibt es in Südamerika - ich bitte Sie, mich zu korrigieren, wenn es nicht stimmt, Professor Summerlee - an die sechsunddreißig Affenarten, zu denen der Menschenaffe jedoch nicht zählt. Hier auf diesem Plateau scheint es ihn allerdings zu geben, er unterscheidet sich jedoch in seinem Äußeren vom Gorilla, den man nur in Afrika und im Fernen Osten antriffi. Hier handelt es sich nach der Beschreibung unseres jungen Freundes um einen bärtigen, pigmentarmen Typus, was durch sein Leben im Schatten der Bäume erklärt wird. Wir müssen uns nun die Frage stellen, ob er mehr dem Affen oder mehr dem Menschen gleicht. Triffi das letztere zu, so könnte es sich um das vielberedete >Bindeglied< handeln - wie sich Laien auszudrücken pflegen. Die Beantwortung dieser Frage dürfte im Moment unser dringendstes Anliegen sein.«
»Ganz und gar nicht«, sagte Professor Summerlee. »Da wir mit Hilfe der Intelligenz und Tatkraft Mr. Malones .«
(Verzeihen Sie, Mr. McArdle, aber ich kann nicht umhin, seine genauen Worte zu zitieren, denn ich bin stolz darauf.)
Also: »Da wir mit Hilfe der Intelligenz und Tatkraft Mr.
Malones endlich im Besitz einer Karte sind und somit die geografische Beschaffenheit des Plateaus kennen, muß es unser dringendstes und einziges Anliegen sein, so schnell wie möglich von hier wegzukommen.«
»An den Suppentopf der Zivilisation«, setzte Professor Challenger geringschätzig hinzu.
»O nein, werter Kollege - an das Tintenfaß der Zivilisation.« Professor Summerlee lächelte überlegen. »Es ist jetzt unsere zwingende Pflicht, die von uns ermittelten Ergebnisse zu Protokoll zu bringen und die weitere Erforschung des Gebiets anderen zu überlassen. Bevor Mr. Malone auf den Baum gestiegen ist, waren in dem Punkt alle mit mir einig.«
»Ich gebe zu«, sagte Professor Challenger, »daß auch ich ruhiger schlafen werde, wenn das Ergebnis unserer Expedition dem Zoologischen Institut in London und seinen notorischen Zweiflern übergeben ist. Wie wir allerdings von diesem Plateau herunterkommen sollen, ist mir nach wie vor ein Rätsel. Da es jedoch für mich noch kein Problem gegeben hat, das ich nicht bewältigt hätte, verspreche ich Ihnen, mich morgen eingehend damit zu beschäftigen.« - Und dabei blieb es erst einmal.
Am Abend wurde beim Schein des Lagerfeuers und einer Kerze die erste Karte der verschollenen Welt aufgezeichnet. Jedes von mir nur grob angedeutete Detail wurde ausgearbeitet und in die richtige Relation gebracht.
Challengers Bleistift blieb schließlich über der Stelle hängen, die den See darstellte.
»Und wie nennen wir ihn?« fragte er.
»Vielleicht nach Ihnen«, sagte Professor Summerlee spitz. »Das wäre für Sie doch die Gelegenheit, Ihren Namen endlich verewigen zu können.«
»Mein Name, mein Bester, wird durch gravierendere Dinge verewigt und der Nachwelt überliefert werden«, sagte Professor Challenger ebenso spitz. »Jeder Dummkopf kann einen Berg oder einen Fluß nach sich benennen. Ich habe das nicht nötig, denn mir stehen andere Mittel zur Verfügung.«
Professor Summerlee verzog den Mund zu einem spöttischen Grinsen und wollte gerade zur nächsten Stichelei übergehen, aber Lord John schaltete sich schnell ein.
»Ich finde«, sagte er, »daß Mr. Melone den Namen bestimmen sollte. Er hat ihn schließlich als erster gesehen, und wenn er ihn Malone-See nennen will, so ist das sein gutes Recht.«
»Aber natürlich!« rief Professor Challenger. »Unser junger Freund soll entscheiden.«
»Gut«, sagte ich und spürte, wie mir bereits die Röte ins Gesicht stieg. »Ich bin für Gladys-See.«
»Wäre Zentralsee nicht angebrachter?« gab Professor Summerlee zu bedenken.
»Vielleicht«, sagte ich. »Ich bin aber trotzdem für Gladys-See.«
Challenger bedachte mich mit einem väterlich mitleidigen Blick. »Diese Kinder!« sagte er kopfschüttelnd. »Also meinetwegen - dann eben Gladys-See.«
12
Es war grauenvoll
Wie bereits erwähnt - oder vielleicht auch nicht, denn mein Gedächtnis spielt mir plötzlich bedauerliche Streiche, war ich stolz, daß drei so bedeutende Männer sich bei mir bedankt und betont hatten, ich habe die Situation gerettet beziehungsweise wesentlich verbessert. Als jüngster in unserer Gruppe - nicht allein an Jahren, sondern auch an Erfahrung, Wissen und all den anderen Dingen, die einen Mann ausmachen - hatte ich von Anfang an in ihrem Schatten gestanden. Und nun hatte ich bewiesen, daß auch ich etwas leisten konnte. Ich aalte mich in diesem Gedanken. Leider! Die aufglimmende Selbstzufriedenheit, dieses zusätzliche Maß an Selbstvertrauen sollten mich noch in derselben Nacht zum schrecklichsten Abenteuer meines Lebens verleiten. Wenn ich bloß daran denke, wird mir übel!
Es kam so: Das Abenteuer auf dem Baum hatte mich übermäßig erregt, und an Schlaf war nicht zu denken. Summerlee hielt Wache. Er saß vornübergebeugt an unserem kleinen Feuer, eine komische, eckige Gestalt. Seine Flinte hatte er über die Knie gelegt, und sein spitzer Ziegenbart wackelte jedesmal, wenn er schläfrig nickte. Lord John lag still in seinen südamerikanischen Poncho gewickelt, und Challenger schnarchte, daß es nur so in den Bäumen grollte. Der Vollmond schien hell, und die Luft war frisch und kühl. Welch eine Nacht für einen Spaziergang!
Warum eigentlich nicht? dachte ich plötzlich.
Angenommen, ich schlich mich leise fort. Angenommen, ich fand einen Weg hinunter zum See. Angenommen, ich war zum Frühstück mit einer Beschreibung dieses Ortes zurück - würde man mich dann nicht für einen noch brauchbareren Mann halten?
Und falls sich Summerlee dann durchsetzte und eine Möglichkeit zum Entkommen gefunden wurde, kehrten wir nach London zurück und kannten das innerste Geheimnis des Plateaus, zu dem ich allein und als einziger vorgedrungen war.
Ich dachte an Gladys und McArdle. Einen Artikel von mindestens drei Spalten würde das geben, und damit war meine Karriere gesichert.
Ich griff mir ein Gewehr, steckte mir die Taschen voll Patronen und schlüpfte zwischen den Dornbüschen am Eingang unserer Schutzhecke hindurch. Mein letzter Blick fiel auf den eingeschlafenen Summerlee, den unfähigsten aller Wachtposten, der noch immer vor dem verglimmenden Feuer saß und mit dem Kopf nickte.