»Ich weiß, wie es ist«, sagte Issib. »Ich habe es auch gespürt, als ich dieser Sache vor ein paar Jahren auf die Spur kam. Ich beschäftigte mich mit verlorenen Wörtern, genau wie mit diesem Tanzbär. Erstellte Listen. Ich hatte eine ziemlich lange Liste mit solchen Begriffen und den dazugehörigen Definitionen und Erklärungen … und Vermutungen, was ein jedes dieser verlorenen Wörter wohl bedeuten könnte. Und eines Tages sah ich mir dann diese Liste an, die ich für komplett hielt, und begriff plötzlich, daß ein paar Dutzend dieser Wörter überhaupt keine Bedeutung hatten. Das ist dumm, dachte ich. Das ruiniert meine Liste. Also habe ich diese Wörter gelöscht.«
»Sie gelöscht?« Nafai war wie vor den Kopf gestoßen. »Anstatt ihrer Bedeutung nachzugehen?«
»Begreifst du jetzt, wie dumm die Überseele einen machen kann?« sagte Issib. »Und in dem Augenblick, in dem ich sie gelöscht hatte, fiel mir wie Schuppen von den Augen, was ich gerade getan hatte. Also wollte ich den Löschbefehl rückgängig machen, doch anstatt auf den betreffenden Knopf zu drücken, gab ich instinktiv den Abbruchbefehl, mit dem ich den Löschpuffer ausschaltete, und dann habe ich die neue Datei über der alten gespeichert.«
»Das ist zu kompliziert, um es mit Ungeschicklichkeit erklären zu können.«
»Genau. Ich habe gewußt, daß es ein Fehler war, sie zu löschen, und doch habe ich diesen Fehler nicht rückgängig gemacht und die Wörter zurückgebracht, sondern sie endgültig gelöscht, aus dem System entfernt.«
»Und du glaubst, die Überseele hat dir das befohlen?«
»Nafai, hast du dich jemals gefragt, was die Überseele ist? Was sie tut?«
»Klar.«
»Ich auch. Und nun weiß ich es.«
»Wegen dieser Wörter?«
»Ich habe sie nicht alle zurückbekommen, aber ich bin meine Nachforschungen so genau durchgegangen, wie es mir möglich war, und habe eine Liste von acht Wörtern erstellen können. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwer das war, denn nun war ich irgendwie … gegen sie eingestellt. Vorher muß ich sie einfach übersehen haben, wurde ich dumm, wenn ich sie sah – wie Vater dumm wurde, als er falsche Vorstellungen über die Vision der Überseele entwickelte. So kamen sie auf meine erste Liste, doch ohne die Definitionen – ich wurde einfach dumm, wann immer ich an sie dachte. Doch wenn ich sie nun sah, bekam ich diese klaustrophobischen Gefühle. Ich brauchte Luft. Ich mußte aus der Bibliothek hinaus. Aber ich zwang mich, immer wieder hineinzugehen. So schwer fiel mir noch nie etwas. Ich zwang mich, zu bleiben und das Undenkbare zu denken. Vorstellungen in meinem Verstand zu entwickeln, von denen die Überseele nicht will, daß wir uns an sie erinnern. Vorstellungen, die einmal so allgemein verbreitet waren, daß jede Sprache auf der Welt Begriffe für sie hat. Uralte Wörter. Verlorene Wörter.«
»Die Überseele verbirgt etwas vor uns?«
»Ja.«
»Was zum Beispiel?«
»Wenn ich es dir sagte, Nafai, würdest du einen Rückfall bekommen.«
»Nein, werde ich nicht.«
»Doch«, sagte Issib. »Glaubst du, ich wüßte es nicht? Glaubst du, ich hätte im vergangenen Jahr nicht selbst dagegen ankämpfen müssen? Du kannst dir also vorstellen, wie überrascht ich gestern abend war, als Elemak in der Küche saß und uns einen der verbotenen Gegenstände erklärte. Kriegswagen.«
»Verboten? Wie können Kriegswagen verboten sein, sie sind doch nicht mal alt?«
»Siehst du? Du hast es schon vergessen. Das Wort Kolesnischa.«
»Ach ja. Richtig. Jetzt fällt es mir wieder ein.«
»Aber erst, als ich es gesagt habe.«
Das stimmt, dachte Nafai. Eine Erinnerungslücke.
»Gestern abend hast du dich mit Elemak über Kriegswagen unterhalten, obwohl ich Monate brauchte, bevor es mir möglich war, der Bedeutung des Wortes Kolesnischa nachzugehen, ohne die ganze Zeit um Atem zu ringen.«
»Aber wir haben das Wort ›Kolesnischa‹ nicht benutzt.«
»Damit will ich dir sagen, Nafai, daß die Überseele zusammenbricht.«
»Das ist eine uralte Theorie.«
»Aber eine zutreffende«, sagte Issib. »Die Überseele schützt gewisse Vorstellungen, von denen sie nicht will, daß die Menschen darüber nachdenken. Erst in den letzten paar Jahren waren die Naßköpfe plötzlich imstande, sich mit einer davon zu befassen. Und auch die Potoku. Und auch wir. Und als ich gestern abend hörte, daß Elemak davon sprach, verspürte ich nicht den geringsten Anflug von Panik.«
»Aber trotzdem habe ich das Wort vergessen. Kolesnischa.«
»Eine sich hinziehende Nebenwirkung. Diesmal hast du dich doch daran erinnert, oder? Nafai, die Überseele hat es aufgegeben, uns vom Konzept des Kriegswagens fernzuhalten. Nach Millionen von Jahren versucht sie es nicht mehr.«
»Was noch?« fragte Nafai. »Wie lauten die anderen Begriffe?«
»Die hat sie noch nicht aufgegeben. Und du scheinst wirklich sehr empfindlich zu sein, was die Überseele betrifft, Njef. Ich weiß nicht, ob ich sie dir nennen kann, oder ob du dich, selbst wenn ich es täte, fünf Minuten später noch daran erinnern würdest.«
»Du meinst, ich kann wissen, daß die Überseele verhindert, daß wir gewisse Dinge erfahren, aber nicht, um welche Dinge es sich dabei handelt, weil die Überseele noch immer zu verhindern versucht, daß ich sie in Erfahrung bringe?«
»Genau.«
»Warum hindert die Überseele die Leute dann nicht daran, zum Beispiel an einen Mord zu denken? Warum verhindert die Überseele nicht, daß die Leute an Krieg, Vergewaltigung und Diebstahl denken? Wenn sie das mit mir machen kann, könnte sie doch auch etwas Nützliches mit dieser Fähigkeit anfangen.«
Issib schüttelte den Kopf. »Es kommt einem nicht richtig vor. Aber ich habe darüber nachgedacht – vergiß nicht, ich weiß schon seit einem Jahr davon –, und das ist die beste Antwort, die mir in den Sinn gekommen ist. Die Überseele will nicht verhindern, daß wir Menschen bleiben. Einschließlich aller verderbter Dinge, die wir uns gegenseitig antun. Sie versucht nur, das Ausmaß unserer Verderbtheit niedrig zu halten. All diese Dinge, die verboten sind … wie kann ich dir das nur sagen, ohne wieder einen Anfall bei dir auszulösen? … nun ja, wenn wir noch die Maschinen hätten, auf die sich die verbotenen Wörter beziehen, würden wir damit viel mehr bewerkstelligen können, jede Waffe könnte viel mehr Schaden anrichten, und alles würde viel schneller geschehen.«
»Die Zeit würde sich beschleunigen?«
»Nein«, sagte Issib. Ganz offensichtlich wählte er seine Worte mit viel Bedacht. »Was wäre, wenn … wenn die Gorajni ein Heer von fünftausend Mann in einem Tag von Jabrev nach Basilika bringen könnten?«
»Daß ich nicht lache!«
»Aber was, wenn sie es könnten?«
»Wir wären natürlich hilflos.«
»Warum?«
»Na ja, wir hätten keine Zeit, ein Heer zusammenzustellen.«
»Wenn wir also wüßten, daß andere Nationen dazu imstande wären, müßten wir also ein stehendes Heer unterhalten, nicht wahr, nur für den Fall, daß jemand plötzlich angreift?«
»Ich glaube schon.«
»Na schön. Jetzt einmal angenommen, die Gorajni fänden eine Möglichkeit, nicht fünf-, sondern fünfzigtausend Soldaten herzuschaffen, und nicht in einem Tag, sondern in sechs Stunden.«
»Unmöglich.«
»Was, wenn ich dir sagen würde, daß so etwas schon einmal geschehen ist?«