Issib auch nicht. »Selbst, wenn wir an die Sache der Überseele glauben, Nafai, könnten wir irgendwann herausfinden, daß sie mehr Schaden als Nutzen anrichtet. Und was sollen wir dann tun?«
»He, Issja, vielleicht leistet die Überseele derzeit schlechte Arbeit, aber das heißt nicht, daß wir ohne sie besser dran wären.«
»Wahrscheinlich werden wir es wohl nie erfahren, oder?«
7
Gebet
Eine Woche lang arbeitete Nafai jeden Tag mit Issib. Sie schliefen jede Nacht in Mutters Haus – sie hatten nicht um Erlaubnis gefragt, aber andererseits hatte Mutter sie auch nicht fortgeschickt. Es war eine anstrengende Woche, weniger, weil die Arbeit so schwer war, sondern weil die Einmischungen der Überseele so schmerzhaft waren. Doch Issib behielt tatsächlich recht. Man konnte dagegen angehen; und obwohl Nafais widerwillige Reaktion darauf stärker war, als es bei Issib der Fall gewesen war, kam er schneller darüber hinweg – hauptsächlich, weil Issib ihm half, ihm versicherte, daß sie eine würdige Aufgabe erfüllten, und ihn immer wieder daran erinnerte, worum es ging.
Allmählich bekamen sie ein ziemlich klares Bild davon, was die Menschheit einmal gehabt und daß die Überseele lange mit Erfolg verhindert hatte, daß sie diese Errungenschaften erneut erfand.
Ein Kommunikationssystem, über das ein Mensch ohne Zeitverlust und direkt mit einer Person in einer anderen Stadt sprechen konnte.
Maschinen, mit denen man Kunst und Spiele und Geschichten empfangen konnte, die durch die Luft gesendet wurden, nicht nur von einer Bibliothek zur anderen, sondern direkt in die Häuser der Menschen.
Maschinen, die ohne Pferde schnell über den Boden fuhren.
Maschinen, die flogen, nicht nur durch die Luft, sondern ins Weltall. »Natürlich muß es Maschinen geben, mit denen man durch den Weltraum fliegen kann. Wie wären wir sonst von der Erde nach Harmonie gelangt?« Doch bis er sich den Weg durch die Abneigung freigekämpft hatte, hatte Nafai sich niemals so etwas vorstellen können.
Und die Waffen des Krieges: Sprengstoff. Geschosse. Einige so klein, daß man sie in der Hand halten konnte. Andere so schrecklich, daß sie ganze Städte verwüsten, ja sogar ganze Planeten verbrennen konnten, wenn Hunderte von ihnen gleichzeitig zum Einsatz kamen. Krankheiten mit tödlichem Ausgang. Giftige Gase. Seismische Spalter. Raketen. Mit Waffen gespickte Stationen im Orbit. Viren, die Gene zerstörten.
Das Bild, das sie herausarbeiteten, war schön und schrecklich zugleich.
»Jetzt verstehe ich, warum die Überseele uns das antut«, sagte Nafai. »Um uns vor diesen Waffen zu bewahren. Aber die Kosten, Issja. Die Freiheit, die wir aufgegeben haben.«
Issib nickte nur. »Wenigstens hat die Überseele uns einiges gelassen. Die Fähigkeit, Energie von der Sonne zu bekommen. Computer. Bibliotheken. Kühlschränke. Alle Küchenmaschinen, die Treibhäuser. Die Magnetvorrichtungen, die meine Schweber ermöglichen. Und wir haben einige ziemlich ausgeklügelte Handwaffen. Elektrische Klingen. Und Pulsatoren. Damit große, starke Menschen keinen besonderen Vorteil kleineren, schwächeren gegenüber haben. Die Überseele hätte uns alles nehmen können. Stein- und Metallwerkzeuge. Nichts mit den beweglichen Teilen. Wir hätten Bäume verbrennen müssen, um Wärme zu bekommen.«
»Dann wären wir keine Menschen mehr.«
»Mensch ist Mensch«, sagte Issib. »Aber die Zivilisation – das ist das Geschenk der Überseele. Zivilisation ohne Selbstvernichtung.«
Sie versuchten einmal, es Mutter zu erklären, doch es führte zu nichts. Sie verstand einfach nicht, wovon sie sprachen, und verabschiedete sich mit einem fröhlichen, kleinen Scherz darüber, wie schön es doch sei, daß sie trotz des Altersunterschiedes Freunde sein und diese Spielchen treiben könnten. Eine Gelegenheit, mit Vater zu sprechen, bot sich nicht.
Doch eine Person gab es, die sich für sie interessierte.
»Warum kommt ihr nicht mehr zum Unterricht?« fragte Huschidh.
Sie setzte sich neben Nafai auf die Treppe und biß in ihr Käsebrot. Ein großer Biß, nicht der delikate kleine Happen, den Eiadh abgebissen hätte. Obwohl Mutter all ihren Schülerinnen beizubringen versuchte, beim Essen den Mund zu benutzen und nicht die gezierten kleinen Bisse zu nehmen, die heutzutage unter den jungen Frauen Basilikas Mode waren. Huschidh interessierte es nicht, ob Nafai ihren Gehorsam Mutter gegenüber attraktiv fand.
»Ich arbeite mit Issib an einem Projekt.«
»Die anderen Schüler behaupten, du versteckst dich«, sagte Huschidh.
Verstecken. Weil Vater plötzlich so berühmt-berüchtigt und kontrovers war. »Ich schäme mich meines Vaters nicht.«
»Natürlich nicht«, sagte Huschidh. »Sie behaupten, daß du dich versteckst. Ich nicht.«
»Und was tue ich deiner Meinung zufolge? Oder hat die Überseele es dir verraten?«
»Ich bin eine Entwirrerin«, sagte sie, »und keine Seherin.«
»Richtig. Das hatte ich vergessen.« Als ob er sich merken würde, was für eine Hexe sie war.
»Die Überseele muß mir nicht sagen, wie du dich in die Welt einwebst.«
»Weil du es sehen kannst.«
Sie nickte. »Und du bist sehr tapfer.«
Er sah sie konsterniert an. »Ich sitze mit Issja in der Bibliothek.«
»Du webst dich in die schwächste der streitenden Parteien Basilikas ein, und doch ist es die beste von ihnen. Es ist die, die gewinnen müßte, wenngleich sich niemand vorstellen kann, wie ihr das gelingen sollte.«
»Ich gehöre keiner Partei an.«
Sie nickte. »Wenn du die Wahrheit nicht hören willst, spreche ich nicht weiter.«
Als wäre sie der Quell der unwiderstehlichen Weisheit.
»Ich höre mir sogar an, wie ein Schwein furzt, solange es die Wahrheit ist«, sagte Nafai.
Augenblicklich sprang sie auf und ging davon.
Das war wirklich dumm, tadelte sich Nafai. Sie will dir nur helfen, und du reißt einen blöden Witz darüber. Er stand auf und folgte ihr. »Es tut mir leid«, sagte er.
Sie zuckte vor ihm zurück.
»Ich mache immer so blöde Witze«, sagte er. »Das ist eine schlechte Angewohnheit, aber ich habe es nicht so gemeint. Es ist nicht so, als wüßte ich nicht selbst, daß es die Überseele wirklich gibt.«
»Ich weiß, daß du es weißt«, sagte sie kühl. »Aber offensichtlich bedeutet das Wissen um die Existenz der Überseele nicht, daß man automatisch Grips, Freundlichkeit oder auch nur Anstand hat.«
»Ich habe es verdient, und auch noch die nächsten drei Gehässigkeiten, die du dir ausdenkst.« Nafai trat um sie herum und sah sie an. Diesmal wandte sie sich nicht ab.
»Ich sehe Muster«, sagte sie. »Ich sehe, wie die Dinge zusammenpassen. Ich sehe, wo du allmählich hineinpaßt. Du und Issib.«
»Ich habe nicht verfolgt, was in der Stadt so vor sich geht«, sagte Nafai. »Ich war mit dem Projekt beschäftigt, an dem wir arbeiten. Ich weiß wirklich nicht, wie die Dinge stehen.«
»Es hat dich ermüdet«, sagte sie.
»Ja«, sagte Nafai. »Ich glaube schon.«
»Gaballufix ist der Mittelpunkt der einen Partei«, sagte sie. »Sie ist die stärkste, aus mehr als einem Grund. Es geht nicht mehr nur um die Kriegswagen oder um die Allianz mit Potokgavan. Es geht um die Männer. Besonders um Männer von außerhalb der Stadt. Also hat er eine große Gefolgschaft, aber er ist auch stark, weil seine Männer sich mit Gewalt durchsetzen.«
Nafai fielen Gespräche ein, die er bei den Mahlzeiten aufgeschnappt hatte. Über die Tolschocks, Männer, die auf der Straße grundlos Frauen niederschlugen. »Seine Männer sind die Tolschocks?«