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Einen Augenblick lang fragte sich Nafai, ob auch sie irgendwie herausgefunden hatte, wie die Überseele bis vor kurzem die Entdeckung des Kriegswagens blockiert hatte. Dann begriff er, daß sie natürlich an das siebente Kodizil dachte: »Du hast keinen Disput mit der Nachbarin der Nachbarin deiner Nachbarin; wenn sie streitet, bleibe zu Hause und schließe dein Fenster.« Das hatte man lange als Verbot interpretiert, sich in Allianzen oder Auseinandersetzungen mit so weit entfernten Nationen zu verstricken, daß der Ausgang dieses Konfliktes keine Rolle für einen spielte. Nafai und Issib kannten den Sinn und Ursprung dieses Gesetzes und die Weise, wie die Überseele es in den Köpfen der Menschen durchgesetzt hatte. Doch für Huschidh war es das Gesetz selbst, das all diese Jahrtausende lang Unterwerfungskriege verhindert hatte. Einmal davon abgesehen, daß viele Nationen versucht hatten, Imperien zu schaffen, und nur auf Grund des Mangels an effizienten Reise- und Kommunikationsmöglichkeiten daran gescheitert waren.

»Ich verstehe dich nicht«, sagte Nafai. »Man kann die Uhr nicht zurückdrehen.«

»Wenn man das nicht kann«, sagte sie, »sind wir bereits so gut wie am Ende.«

»Vielleicht«, sagte Nafai. »Angenommen, Roptat gewinnt. Wenn dann die Flotte der Potoku eintrifft, werden sie den Berg hinaufkommen und uns vernichten, bevor die Naßköpfe kommen können. Und wenn Gaballufix gewinnt … wenn dann die Naßköpfe kommen, werden sie zuerst die Potoku vernichten, und dann kommen sie die Berge hinauf und vernichten uns als Vergeltungsmaßnahme.«

»Na also«, sagte Huschidh. »Du siehst, daß du zu uns gehörst.«

»Nein«, sagte Nafai. »Denn wenn die Stadt-Partei dieses Patt aufrecht hält, werden entweder Gaballufix oder Roptat ungeduldig werden, und es wird zu Todesfällen kommen. Dann brauchen wir keine Fremden mehr, um uns zu vernichten. Wir werden es selbst erledigen. Was glaubst du, wie lange Frauen diese Stadt noch beherrschen werden, wenn es zu einem Bürgerkrieg zwischen zwei mächtigen Männern kommt?«

Huschidh sah ins Leere. »Glaubst du das wirklich?« fragte sie.

»Ich mag kein Entwirrer sein«, erwiderte Nafai, »doch ich habe Geschichtsbücher gelesen.«

»So viele Jahrhunderte lang haben wir in dieser Stadt der Frauen den Frieden bewahrt.«

»Ihr hättet den Männern niemals das Stimmrecht geben sollen.«

»Sie haben das Stimmrecht schon seit über einer Million Jahren.«

Nafai nickte. »Ich weiß. Was jetzt passiert – es liegt an der Überseele.«

Nun sah er, daß Huschidh ins Leere starrte, weil sich ihre Augen mit Tränen gefüllt hatten. »Sie stirbt, nicht wahr?«

Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, daß jemand dies so persönlich nehmen könnte. Als wäre die Überseele eine liebe Verwandte. Aber vielleicht war es für jemanden wie Huschidh auch so. Obwohl alle wußten, daß die Kinder der Wilden normalerweise aus einer Vergewaltigung oder einer der beiläufigen Kopulationen auf den Straßen der Stadt hervorgegangen waren, wurden sie doch trotzdem ›Kinder der Überseele‹ genannt. Vielleicht hielt Huschidh die Überseele wirklich für ihren Vater. Aber nein – auch die Frauen hatten sie mit einem weiblichen Artikel belegt. Und Huschidh wußte, daß ihre Mutter eine Wilde war.

Noch immer konnte Huschidh kaum die Tränen zurückhalten.

»Was willst du von mir?« fragte Nafai. »Ich weiß nicht, was die Überseele macht. Deine Schwester – wie du gesagt hast, sie ist die Seherin.«

»Die Überseele hat die ganze Woche noch nicht zu ihr gesprochen. Oder zu irgend wem sonst.«

Nafai war überrascht. »Du meinst, nicht einmal am See?«

»Ich weiß, daß ihr beide, du und Issib, die ganze Woche über sehr, sehr eng mit der Überseele verbunden wart. Sie hat euch erschöpft, wie sie es manchmal auch mit Lutja und … und mir macht. Die Frauen sind ins Wasser gegangen, immer mehr von ihnen, und doch kommen sie leer wieder heraus, oder nur mit dummen Schlaf träumen. Es macht ihnen angst. Aber ich habe es ihnen gesagt. Ich habe gesagt: Nafai und Issib, sie werden von der Überseele berührt. Also ist sie nicht tot. Und sie haben mich gebeten … es von euch in Erfahrung zu bringen.«

»Was in Erfahrung zu bringen?«

Die Tränen brachen endlich hervor und rollten ihre Wangen hinab. »Ich weiß es nicht«, sagte sie unglücklich. »Was wir tun sollen. Was die Überseele von uns erwartet.«

Er berührte ihre Schulter, um sie zu trösten – Nafai wußte nicht, was er sonst tun sollte. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Aber mit einem habt ihr Recht – die Überseele ermüdet. Erschöpft sich selbst. Trotzdem überrascht es mich, daß sie keine Visionen mehr schickt. Vielleicht wurde sie abgelenkt. Vielleicht …«

»Ja?«

Er schüttelte den Kopf. »Laß mich erst mit Issib sprechen, ja?«

Sie nickte und neigte schließlich den Kopf, um sich die Tränen aus den Augen zu wischen. »Ja, bitte«, sagte sie. »Ich könnte nicht … mit ihm sprechen.«

Warum in aller Welt denn das nicht? Aber er fragte sie nicht danach. Er war zu verwirrt von dem, was sie erzählt hatte. Die ganze Zeit über hatten er und Issib gedacht, ihre Nachforschungen verliefen geheim, und dann erzählte Huschidh allen Frauen Basilikas, daß sie beide durch den Kontakt mit der Überseele erschöpft waren! Und doch waren diese Frauen trotz all ihrer Kenntnisse auch hoffnungslos unwissend – woher sollten er und Issib ahnen, wieso sie keine Visionen mehr hatten?

Nafai ging direkt in die Bibliothek und berichtete Issib von seinem Gespräch mit Huschidh, so gut er sich daran erinnern konnte. »Ich reime es mir folgendermaßen zusammen«, schloß er. »Was ist, wenn die Überseele gar nicht so mächtig ist? Was ist, wenn die Visionen ausbleiben, weil sich die Überseele nicht gleichzeitig mit uns befassen und anderen Visionen geben kann?«

Issib lachte. »Komm schon, Njef, als wären wir der Mittelpunkt der Welt.«

»Ich meine es ernst. Wie groß muß die Kapazität der Überseele eigentlich sein? Die meisten Menschen sind so unwissend oder dumm oder schwach, daß sie überhaupt nichts bewirken könnten, selbst wenn sie an eins dieser verbotenen Themen dächten. Warum sie also unter Beobachtung halten? Das bedeutet, daß die Überseele nur relativ wenige Menschen überwachen muß. Und wenn sie die hin und wieder überprüft, bleibt ihr genug Zeit, um sie von gefährlichen Projekten abzulenken. Doch jetzt, wo die Überseele schwächer wird, warst du imstande, dich ihr gegenüber unempfindlicher zu machen. Das war eine Auseinandersetzung zwischen dir und der Überseele, und du hast gewonnen, Issib. Was, wenn sich die Überseele während all dieser Kämpfe auf dich konzentriert hat und keinem mehr Visionen geben, keinen mehr überwachen konnte? Aber du bist so langsam vorangekommen, daß ihr noch immer Zeit für etwas anderes blieb.«

»Aber dann haben wir beide uns zusammengetan«, sagte Issib. »Nun mußte sie sich völlig auf uns konzentrieren. Und dadurch wurde sie noch schwächer.«

»Ich glaube also, Issib, daß wir ihr nicht helfen, sondern sie verletzen.«

Issib lachte erneut. »Das kann nicht sein«, sagte er. »Wir sprechen hier von der Überseele, nicht von einer Lehrerin mit ein paar aufsässigen Schülern.«

»Die Überseele hat schon einmal versagt. Oder es würde keine Kriegswagen geben.«

»Was sollen wir also tun?«

»Aufhören«, sagte Nafai. »Einen Tag lang. Uns von den verbotenen Themen fernhalten. Feststellen, ob die Leute dann wieder Visionen bekommen.«

»Glaubst du ernsthaft, daß wir, wir beide, so viel von der Zeit der Überseele beansprucht haben, daß sie den Menschen keine Visionen mehr geben kann? Schließlich müssen wir auch essen und schlafen. Es hat genug Unterbrechungen gegeben.«