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Etwas ganz anderes war es, wenn jemand begann, auf einer vielbenutzten Durchgangsstraße wie der Frühlingsstraße zu bauen. Dort zogen die Passanten schon allein aus ihrer Anzahl Mut – und aus ihrem Zorn über die Vorstellung, eine Straße zu verlieren, die sie oft benutzten. Also sabotierten sie das Bauvorhaben, wenn sie daran vorbeikamen, schlugen Mauern ein und trugen Steine davon. Wenn die Bauherrin mächtig und entschlossen war und über viele starke Arbeiter verfügte, konnte es leicht zu einem Handgemenge kommen – aber das wiederum führte vielleicht genauso leicht zu einem Gerichtsprozeß, bei denen die Bauherrinnen immer für schuldig befunden wurden, da das Bauen in einer Straße als mehr als ausreichenden Grund für eine gesetzliche Maßregelung angesehen wurde.

Die Bauherrin in der Frühlingsstraße hatte es jedoch sehr klug angestellt. Sie hatte ihre sechs Gebäude auf Säulen errichtet, so daß die Straße nicht blockiert wurde. Die Häuser begannen statt dessen erst mit dem ersten Stock, über der Straße – und so zeigten sich die Passanten zwar verärgert, aber nicht so aufgebracht, daß sie mit ihrer Sabotage ernst gemacht hätten. Die Gebäude waren in diesem Frühsommer fertiggestellt worden, und einige sehr wohlhabende Leute waren dort eingezogen.

Unausweichlich hatten sich unter den Bogengängen der Häuser Straßenhändler und unternehmungslustige Handwerker eingefunden – womit die Bauherrin auch gerechnet hatte. Der Verkehr kroch nur noch daher, und andere Bauherrinnen hatten feste Läden und Buden errichtet, bis es dann vor ein paar Wochen völlig unmöglich geworden war, von der Tempel- zur Flügel- und Frühlingsstraße zu kommen – die kleinen Gebäude blockierten nun vollends den Weg. Eine weitere Straße in Basilika war unterbrochen worden, doch diesmal handelte es sich um eine wichtige Durchgangsstraße, wodurch sehr vielen Menschen ernsthafte Unannehmlichkeiten entstanden waren. Nur die ursprüngliche Bauherrin und die geschäftigen Inhaber der kleinen Geschäfte profitierten tatsächlich davon; den Frauen, denen die inneren Gebäude gehörten, fiel es immer schwerer, zu den Treppen zu kommen, die zu ihren Häusern hinaufführten, und einige schickten sich bereits an, die alten Gebäude, die nicht mehr auf eine Straße führten, aufzugeben.

Als Nafai und Issib nun über die Frühlingsstraße gingen, sahen sie, daß jemand den blockierten Teil durchbrochen und alle kleinen Gebäude abgerissen hatte. Die neuen Gebäude waren – ein Stockwerk über der Straße – stehen geblieben, doch der Durchgang unter ihnen war wieder geöffnet. Noch bedeutsamer war, daß an beiden Enden der Straße Soldaten postiert worden waren. Die Bedeutung war klar: Es würden keine weiteren Bauten geduldet werden.

»Gaballufix ist kein Narr«, sagte Issib.

Nafai wußte, was er meinte. Die Leute mochten es nicht gern sehen, daß Soldaten durch die Straße marschierten; dazu stellten sie eine zu große Androhung von Gewalt und Freiheitsverlust dar. Doch indem sie die Frühlingsstraße wieder für den Verkehr öffneten, gewannen sie Sympathien und würden irgendwann vielleicht sogar toleriert werden.

Die Flügelstraße führte schließlich zur Tempelstraße, und Nafai und Issib folgten ihr, bis sie den großen Kreisverkehr um den Tempel selbst erreichten. Das war der bedeutendste Vorposten der Religion der Männer in dieser Stadt der Frauen, der einzige Ort, wo man davon ausging, daß die Überseele männlich war und an dem Blut und kein Wasser die heilige Flüssigkeit darstellte. Instinktiv blieb Nafai an den Nordtüren stehen, obwohl er seit seinem achten Lebensjahr nicht mehr in dem Tempel gewesen war, als man seine Vorhaut mit seinem eigenen Blut getränkt hatte. »Gehen wir hinein«, sagte er.

Issib erschauderte. »Ich hasse diesen Ort zutiefst«, sagte er.

»Würden sie Betäubungsmittel verwenden, wäre der Gottesdienst bei den Jungen beliebter«, sagte Nafai.

Issib grinste. »Schmerzlose Verehrung. Das ist ein guter Gedanke. Vielleicht käme bei den Frauen eines Tages auch die trockene Verehrung gut an.«

Sie traten durch die Tür in die feuchte, dunkle, fensterlose Außenkammer.

Obwohl der Tempel völlig rund war, waren die inneren Kammern so angelegt, daß sie an Herzkammern erinnerten: linker und rechter Herzvorhof, linke und rechte Herzkammer. Die gewundenen Gänge und winzigen Räume dazwischen waren nach verschiedenen Venen und Arterien benannt. Vor der Beschneidung mußte ein Junge alle Namen der Zimmer auswendig lernen, doch das taten sie, indem sie sich ein Lied einprägten, das für die meisten, die es lernten, bedeutungslos blieb. Also waren Nafai und Issib die Namen, die auf den Oberbalken oder Schlußsteinen der Türen standen, nicht vertraut, und sie verirrten sich augenblicklich.

Es spielte keine Rolle. Schlußendlich führten alle Hallen und Gänge die Gläubigen zum Innenhof, dem einzigen hellen Ort im Tempel, von dem aus man den Himmel sehen konnte. Da der Sonnenuntergang nicht mehr lange auf sich warten lassen würde, fiel kein direktes Sonnenlicht auf den Steinboden des Hofes, doch nach soviel Dunkelheit blendete sogar das reflektierte Licht schmerzhaft.

Am Eingang hielt ein Priester sie auf. »Gebet oder Meditation?« fragte er.

Issib erschauderte – bei ihm eine krampfartige Bewegung, da die Schwebeflossen jedes Zucken verstärkten, das seine Muskeln durchlief. »Ich glaube, ich warte in der rechten Herzkammer.«

»Sei kein Angsthase«, sagte Nafai. »Es wird dich doch nicht gleich umbringen, eine Minute lang zu meditieren.«

»Du meinst, du willst wirklich beten?« sagte Issib.

»Ich glaube schon«, sagte Nafai.

Um die Wahrheit zu sagen, Nafai wußte nicht, warum oder wofür. Er wußte nur, daß seine Beziehung zur Überseele von Tag zu Tag komplizierter wurde; er verstand die Überseele besser denn je, und die Überseele nahm nun direkten Einfluß auf sein Leben, und so war es wichtig geworden zu versuchen, klar und deutlich mit ihr zu kommunizieren, anstatt hilflos herumzuexperimentieren. Es reichte nicht aus, verbotenen Wörtern nachzuspüren und zu hoffen, daß die Überseele den Hinweis verstand. Es mußte eine bessere Möglichkeit geben.

Er sah zu, wie die Priester Issib in den Finger stachen und die winzige Wunde über den Blutstein wischten. Issib nahm es gelassen hin – er war wirklich kein Angsthase, und er hatte in seinem Leben soviel Schmerz ausgehalten, daß ein kleiner Stich in den Finger wirklich nichts bedeutete. Er hatte lediglich wenig Verständnis für die Rituale der Männerreligion. Er nannte sie ›Blutsport‹ und verglich sie mit Haikämpfen, die immer damit begannen, jedem Hai im Teich eine blutende Wunde zu versetzen. Als sich das Blut auf dem rauhen Stein verwischt hatte, schwebte er zu der hohen Bank an der sonnenhellen Wand hinüber, wo er noch mit einer halben Stunde Sonnenlicht rechnen konnte. Die Bank war natürlich voll besetzt, doch Issib blieb einfach neben ihr schweben. »Beeil dich«, murmelte er, als er an Nafai vorbeiglitt.