Da Nafai beten wollte, versetzte der Priester ihm keinen Stich. Statt dessen mußte er in die goldene Kugel mit den Gebetsringen greifen. Sie war mit einem starken Desinfektionsmittel gefüllt, das zwei Zwecke erfüllte: zum einen sollte es verhindern, daß die mit Widerhaken gespickten Ringe Infektionen verbreiteten, zum anderen bewirkte es, daß jede Verletzung, die man sich durch sie zuzog, ein paar Sekunden lang stark brannte. Nafai nahm normalerweise nur zwei Ringe, einen für den Mittelfinger jeder Hand, doch diesmal hatte er den Eindruck, daß er mehr benötigte. Obwohl er noch nicht einmal wußte, worum er beten wollte, wollte er sichergehen, daß die Überseele begriff, daß er es ernst meinte. Also nahm er Ringe für alle vier Finger jeder Hand und auch zwei Daumenringe.
»So schlimm kann es doch nicht sein«, sagte der Priester.
»Ich bete nicht um Vergebung«, sagte Nafai.
»Ich will nicht, daß du ohnmächtig wirst, wir sind heute nicht voll besetzt.«
»Ich werde schon nicht ohnmächtig.« Nafai ging zum Brunnen in der Mitte des Hofs. Das Wasser des Brunnens hatte nicht die normale rosa Farbe – es war fast dunkelrot. Nafai erinnerte sich noch gut an den starken Ekel, den er empfunden hatte, als er erfahren hatte, wie das Wasser seine Farbe bekam. Vater hatte gesagt, wenn Basilika in großer Not sei – während einer Dürreperiode zum Beispiel oder wenn ein Feind angriff –, enthielte der Brunnen fast reines Blut, soviel Blut gäbe es. Es war ein seltsames und eindringliches Gefühl, die Sandalen und Kleidung abzulegen, dann im Teich zu knien und zu wissen, daß diese lauwarme Flüssigkeit, die ihn umspülte, fast bis zur Hüfte, wenn er sich auf die Fersen hockte, dick vor den hingebungsvollen, blutigen Gebeten anderer Männer war.
Er streckte lange die geschundenen Hände aus, riß sich zusammen und bereitete sich auf das Gespräch mit der Überseele vor. Dann schlug er mit den Händen heftig gegen die Oberarme, genau, wie er es bei seinen Morgengebeten tat; diesmal jedoch drangen die Widerhaken in seine Haut, und der Schmerz war tief und schroff. Es war eine gute, nachdrückliche Eröffnung, und er hörte, daß mehrere der Meditierenden seufzten oder murmelten. Er wußte, daß sie das scharfe Geräusch seines Schlags gehört und seine Selbstdisziplin beobachtet hatten, mit der er sich davon abhielt, vor Schmerz auch nur zu stöhnen, und daß sie sein Gebet wegen dessen Kraft und Tugend respektierten.
Überseele, sagte er stumm. Du hast all das angefangen. So schwach, wie du bist, hast du dich entschlossen, in das Leben meiner Familie einzudringen. Hoffentlich verfolgst du damit einen bestimmten Plan. Und wenn ja, ist es nicht an der Zeit, daß du uns diesen Plan offenbarst?
Er schlug sich erneut, diesmal auf die empfindlichere Haut seiner Brust. Als der Schmerz nachließ, fühlte er, daß zwischen den unsichtbaren neuen Haaren, die dort wuchsen, Blut hinabtropfte. Ich biete dir dieses Opfer an, Überseele, ich biete dir meinen Schmerz an, falls du ihn brauchst, ich tue alles, was du von mir verlangst, doch ich erwarte dafür von dir ein Versprechen. Ich erwarte, daß du meinen Vater beschützt. Ich erwarte, daß dein Vorgehen wirklich Sinn hat und daß du Vater diesen Sinn verrätst. Ich erwarte, daß du meine Brüder davor bewahrst, sich in irgendein schreckliches Verbrechen gegen die Stadt zu verstricken und erst recht in ein Verbrechen gegen meinen Vater. Wenn du Vater schützt und uns wissen läßt, was vor sich geht, werde ich alles tun, was ich kann, um deinen Plan zu unterstützen, denn ich weiß, daß du von Anfang zu dem Zweck programmiert wurdest, die Menschheit davor zu bewahren, sich selbst zu vernichten, und ich werde alles in meiner Kraft stehende tun, um diesem Zweck zu dienen. Ich bin dein, solange du uns gerecht behandelst.
Er schlug auf seinen Bauch, der bislang schärfste Schmerz, und nun hörte er, daß mehrere Meditierende laute Kommentare abgaben und der Priester hinter ihn trat. Unterbrich mich nicht, dachte Nafai. Entweder, die Überseele hört mich, oder sie hört mich nicht, und wenn sie mich hört, will ich, daß sie weiß, wie ernst es mir ist. Ernst genug, um mich zu zerstückeln, wenn es denn sein muß. Nicht, weil ich glaube, daß dieses Bluten etwas mit Heiligkeit zu tun hat, sondern, weil es meine Bereitschaft zeigt, zu tun, was ich gesagt habe, auch, wenn es mich persönlich sehr viel kostet. Ich werde tun, was du willst, Überseele, aber du mußt auch Vertrauen haben.
»Junger Mann«, flüsterte der Priester.
»Verschwinde«, flüsterte Nafai zurück.
Die Sandalen schlurften über den Stein davon.
Nafai griff über seine Schultern und scharrte mit den Händen über den Rücken. Jetzt waren es Risse, keine Stiche, und die Verletzungen würden nicht unbedeutend sein. Siehst du das, Überseele? Du bist in meinem Kopf, du weißt, was ich denke und fühle. Issib und ich lassen dich in Ruhe, damit du den Leuten wieder Visionen geben kannst. Jetzt mache dich an die Arbeit und bringe diese Situation wieder unter Kontrolle. Und was immer du von mir verlangst, ich werde es tun. Wenn ich diesen Schmerz ertragen kann, weißt du, daß ich alles ertragen kann, was du mir aufbürdest. Und da ich genau weiß, wie weh es tut, kann ich es auch noch einmal aushalten.
Er kratzte sich erneut. Diesmal, als sich neue Wunden über die alten zogen, trieb der Schmerz Tränen in seine Augen – aber keinen Laut über seine Lippen.
Genug. Entweder hatte die Überseele ihn jetzt gehört oder nicht.
Er ließ sich, noch immer mit geschlossenen Augen, in das blutige Wasser fallen. Es schloß sich über seinem Kopf, und einen Augenblick lang war er völlig untergetaucht. Dann brachte der Auftrieb ihn wieder an die Oberfläche, und er spürte die kühle Abendluft auf seinem Rücken.
Noch einen Augenblick. Halte den Atem noch einen Augenblick lang an. Länger. Nur noch etwas länger. Warte auf die Stimme der Überseele. Lausche in der Stille des Wassers auf sie.
Doch die Antwort blieb aus. Er spürte nur den immer stärkeren Schmerz der Verletzungen an Nacken und Schultern.
Er richtete sich auf, stand tropfnaß da und ging zum Rand des Brunnens, öffnete zum ersten Mal die Augen, seit er den Teich betreten hatte. Jemand gab ihm ein Handtuch. Hände griffen nach ihm, um ihm über den Rand des Brunnens zu helfen. Als seine Augen trocken waren, konnte er sehen, daß fast alle Meditierenden die Wand verlassen hatten und sich nun um ihn scharten, ihm Handtücher und seine Kleider gaben. »Ein mächtiges Gebet«, flüsterten sie. »Möge die Überseele dich hören.« Sie duldeten nicht, daß er sich selbst abtrocknete oder sogar anzog. »So viel Tugend in einem so jungen Menschen.« Statt dessen tupften andere Hände sanft seinen verletzten Rücken ab und rieben heftig über seine Schenkel. »Basilika ist gesegnet, solch ein Gebet in diesem Tempel erlebt zu haben.« Andere Hände zogen ihm das Hemd über den Kopf und die Hosen die Beine hinauf. »Der ganze Stolz eines Vaters ist ein junger Sohn, der sich fromm verbeugt und doch vom Mut erhoben wird.« Sie schnürten seine Sandalen zu, und als sie feststellten, daß die Riemen unter den Knien endeten, nickten sie und murmelten: »Er unterwirft sich keinen törichten Modeerscheinungen!« und »Die Sandalen eines Arbeiters!«
Und als Nafai und Issib den Brunnen verließen, hörten sie, daß hinter ihnen noch immer gemurmelt wurde. »Heute war die Überseele bei uns.«
An der Schwelle, die zur linken Herzkammer führte, mußte Nafai plötzlich stehenbleiben, weil ihm jemand in den Weg trat, der durch diese Tür hineinkam. Da er den Kopf geneigt hielt, sah er nur die Füße des Mannes. Da sein Hemd vom Blut des Gebets befleckt war, erwartete er, daß der Mann ihm Platz machte, doch das war anscheinend nicht der Fall.