»Meb«, sagte Issib.
Nafai hob den Blick von den Schuhen des Mannes. Es war tatsächlich Mebbekew. Während eines Augenblicks stechender Klarheit hatte er den Eindruck, seinen Bruder zur Gänze zu sehen. Er trug kein grelles Gewand mehr, wie es so lange sein Stil gewesen war. Meb war nun wie ein Geschäftsmann gekleidet, in Gewändern, die eine beträchtliche Summe gekostet haben mußten. Doch Nafais Interesse galt nicht seiner Kleidung, nicht dem Geheimnis, woher er das Geld hatte, sie zu erstehen – denn das war nun wirklich kein Geheimnis mehr. Als Nafai Mebbekews Gesicht betrachtete, wußte er, daß Mebbekew nun Gaballufix’ Mann war. Vielleicht war es der Ausdruck auf seinem Gesicht: Während Mebbekew früher immer ein unbeschwertes Lächeln gezeigt hatte, ein Funkeln des boshaften Scherzens in seinen Augen, blickte er nun ernst und wichtig und etwas verängstigt drein. Doch wovor hatte er Angst? Vor sich selbst. Vor dem Mann, zu dem er wurde.
Vor dem Mann, der ihn besaß. Nichts an seinem Ausdruck oder seiner Kleidung wies ihn als Mann aus, der zu Gaballufix gehörte, und doch wußte Nafai es. So muß es bei Huschidh sein, dachte er, wenn sie die Verbindungen zwischen Menschen sieht. Sie hat keinen Grund dafür, doch auch nicht den geringsten Zweifel.
»Wofür hast du gebetet?« fragte Mebbekew.
»Für dich«, erwiderte Nafai.
Unerklärliche Tränen traten in Mebbekews Augen, doch sein Gesicht und seine Stimme weigerten sich, die Gefühle einzugestehen, von denen sie kündeten. »Bete lieber für dich«, sagte Mebbekew, »und für diese Stadt.«
»Und für Vater«, sagte Nafai.
Mebbekews Augen weiteten sich um eine Winzigkeit, doch Nafai wußte, daß er ins Ziel getroffen hatte.
»Tritt beiseite«, sagte eine leise, aber ärgerliche Stimme hinter ihm. Vielleicht einer der Meditierenden. Auf jeden Fall ein Fremder. »Mach dem jungen Mann des mächtigen Gebets Platz.«
Mebbekew trat in den dunklen Schatten des Tempelinneren zurück. Nafai schob sich an ihm vorbei und schloß zu Issib auf, der direkt hinter Meb auf dem Gang gewartet hatte.
»Was hat Meb denn hier verloren?« fragte Issib, als sie außer Hörweite waren.
»Vielleicht gibt es einige Dinge, die man nicht tun kann, ohne vorher mit der Überseele gesprochen zu haben«, sagte Nafai.
»Oder er ist vielleicht zum Schluß gekommen, daß es ganz nützlich ist, sich der Öffentlichkeit als frommer Mann zu präsentieren.« Issib lachte leise. »Schließlich ist er ja Schauspieler, und es sieht aus, als hätte ihm jemand ein neues Kostüm gegeben. Ich frage mich nur, was für eine Rolle er spielen soll.«
8
Warnung
Als Nafai und Issib nach Hause kamen, war Truzhnischa noch dort. Sie hatte den ganzen Tag über gekocht und für Nachschub bei den Tiefkühlgerichten gesorgt. Aber es stand keine heiße, frische Mahlzeit auf dem Tisch. Vater duldete nicht, daß seine Haushälterin sein Söhne verwöhnte.
Truzhnischa sah natürlich sofort, wie enttäuscht Nafai war. »Woher sollte ich denn wissen, daß ihr heute zum Abendessen nach Hause kommt?«
»Manchmal kommen wir zum Essen.«
»Also nehme ich das Geld eures Vaters und kaufe Lebensmittel und bereite sie so zu, daß ich sie heiß und frisch auf den Tisch bringen kann, und dann kommt niemand nach Hause. Das kommt ziemlich oft vor, und dann kann ich die Mahlzeit wegschmeißen, weil ich die Tiefkühlkost anders zubreiten muß.«
»Ja, du kochst alles viel zu lange«, sagte Issib.
»Damit es schön weich für deine schwachen Kiefer ist«, sagte sie.
Issib knurrte sie an – tief in seiner Kehle, wie ein Hund. So spielten sie miteinander. Nur Truzhja konnte ihn aufziehen, indem sie seine Schwäche übertrieb; nur bei Truzhja gab Issib je ein Knurren oder Grunzen von sich, in Verspottung einer Manneskraft, die für ihn unerreichbar bleiben würde.
»Dein tiefgefrorenes Zeug ist ganz in Ordnung«, sagte Nafai.
»Danke«, sagte sie. Ihr übertriebener Tonfall verriet ihm, daß er sie mit seiner Bemerkung beleidigt hatte. Doch er hatte sie ehrlich gemeint, als Kompliment. Warum dachten alle ständig, er wäre sarkastisch oder beleidigend, wenn er doch nur versuchte, nett zu sein? Irgendwann mußte er wirklich einmal lernen, welche Signale andere Leute immer in seinen Ansprachen sahen, so daß sie immer überzeugt waren, er wolle sie beleidigen.
»Dein Vater ist draußen in den Ställen, aber er will mit euch beiden sprechen.«
»Gleichzeitig?« fragte Issib.
»Woher soll ich das denn wissen? Soll ich euch vor seiner Tür in einer Schlange aufstellen?«
»Ja, das solltest du«, sagte Issib und schnappte mit den Kiefern nach ihr, wie ein zubeißender Hund. »Wenn du nicht so eine unwürdige alte Ziege wärest.«
»Ich zeige dir gleich, wer hier unwürdig ist«, sagte sie lachend.
Nafai sah erstaunt, fast ehrfürchtig zu. Issib konnte wirklich beleidigende Dinge sagen, und sie faßte es als Spiel auf. Nafai lobte ihre Kochkünste, und sie sah eine Beleidigung darin. Ich sollte in die Wüste hinausgehen und zu einem Wilden werden, dachte Nafai. Abgesehen davon natürlich, daß nur Frauen Wilde werden können und dann sowohl vom Gesetz als auch von den Gebräuchen her vor Schaden geschützt werden. In der Tat wurde eine Wilde in der Wüste besser behandelt als in der Stadt – das Wüstenvolk wagte es nicht, Hand an die heiligen Frauen zu legen, und brachte ihnen sogar Wasser und Nahrung, wenn es sie bemerkte. Doch ein Mann, der allein in der Wüste lebte, würde wahrscheinlich innerhalb eines Tages ausgeraubt und ermordet werden. Außerdem, dachte Nafai, habe ich nicht die geringste Ahnung, wie man in der Wüste überleben kann. Vater und Elemak wissen es, aber auch sie wagen es nur, wenn sie viele Vorräte mitnehmen. Ohne Vorräte würden sie in der Wüste genauso schnell sterben wie ich. Der Unterschied ist nur, daß sie überrascht wären, daß es mit ihnen zu Ende geht, denn sie glauben zu wissen, wie man dort überleben kann.
»Bist du wach, Nafai?« fragte Issib.
»Was? Ja, natürlich.«
»Dann willst du das Essen, das vor dir steht, also als Haustier behalten?«
Nafai sah hinab und stellte fest, daß Truzhja einen vollen Teller vor ihn gestellt hatte. »Danke«, sagte er.
»Wenn ich dir Essen koche, könnte ich es genauso gut auf die Gräber deiner Vorfahren stellen«, sagte Truzhya.
»Sie bedanken sich nicht«, sagte Nafai.
»Oh, er bedankt sich«, knurrte sie.
»Was soll ich denn sonst sagen?« fragte Nafai.
»Iß einfach«, sagte Issib.
»Ich will wissen, wieso sie sich darüber aufregt, daß ich mich bedankt habe!«
»Sie hat einen Scherz gemacht«, sagte Issib. »Ein Spielchen. Du hast keinen Sinn für Humor, Njef.«
Nafai nahm einen Bissen und kaute wütend. Also hatte sie einen Scherz gemacht. Woher sollte er das denn wissen?
Das Tor schwang auf. Das Schlurfen von Sandalen, und dann wurde eine Tür geöffnet und sofort wieder geschlossen. Also war es Vater, da er der einzige in der Familie war, der auf sein Zimmer gehen konnte, ohne in Sichtweite der Küchentür zu kommen. Nafai wollte aufstehen und zu ihm gehen.
»Iß erst auf«, sagte Issib. »Er hat nicht gesagt, daß es sich um einen Notfall handelt.«
»Er hat aber auch nicht gesagt, daß es sich um keinen handelt«, erwiderte Nafai und verließ die Küche.
»Sag ihm, ich komme gleich!« rief Issib ihm hinterher.
Nafai trat auf den Hof, überquerte ihn vor dem Tor und öffnete die Tür zu Vaters öffentlichem Zimmer. Er war nicht dort. Statt dessen war er in der Bibliothek und hatte auf dem Computer ein Buch aufgerufen, das Nafai augenblicklich als das Testament der Überseele erkannte, vielleicht die älteste der heiligen Schriften, die aus einer so alten Zeit stammte, daß die Männer und Frauen den Geschichten zufolge damals dieselbe Religion gehabt hatten.