»Sie kommt aus den Schatten des Schlafs zu dir«, las Nafai laut die erste Zeile auf dem Bildschirm vor.
»Sie flüstert dir in die Furcht deines Herzens«, antwortete Vater.
»Im strahlenden Bewußtsein deiner Augen und der dunklen Starre deiner Unwissenheit findet sich ihre Weisheit«, fuhr Nafai fort.
»Nur in ihrem Schweigen bist du allein. Nur in ihrem Schweigen gehst du irre. Nur in ihrem Schweigen solltest du verzweifeln.« Vater seufzte. »Es steht alles hier, nicht wahr, Nafai?«
»Die Überseele ist weder Mann noch Frau«, sagte Nafai.
»Klar, du weißt bestimmt, was die Überseele ist.«
Vaters Stimme klang so müde, daß Nafai zum Schluß kam, es lohne sich nicht, heute abend mit ihm über Theologie zu streiten. »Du wolltest mich sehen.«
»Dich und Issib.«
»Er wird jeden Augenblick kommen.«
Wie auf ein Stichwort trieb Issib zur Tür hinein, während er noch an einem Käsebrot kaute.
»Danke, daß du Krümel in meine Bibliothek trägst«, sagte Vater.
»Entschuldige«, sagte Issib. Er drehte um und trieb wieder zur Tür hinaus.
»Komm zurück«, sagte Vater. »Die Krümel sind mir egal.«
Issib kam zurück.
»Ganz Basilika spricht über euch beide.«
Nafai warf Issib einen Blick zu. »Wir haben nur etwas in der Bibliothek geforscht.«
»Die Frauen behaupten, daß die Überseele zu keinem mehr spricht, nur noch zu euch.«
»Wir bekommen nicht gerade deutliche Nachrichten von ihr«, sagte Nafai.
»Wir haben sie hauptsächlich mit Beschlag belegt, indem wir ihre Abneigungsreflexe stimulieren«, sagte Issib.
»Ach ja«, entgegnete Vater.
»Aber wir haben damit aufgehört«, sagte Issib. »Deshalb sind wir nach Hause gekommen.«
»Wir wollen uns nicht einmischen«, sagte Nafai.
»Aber Nafai hat auf dem Nachhauseweg gebetet«, sagte Issib. »Das war ziemlich beeindruckend.«
Vater seufzte. »Ach, Nafai, wenn du je etwas von mir gelernt haben solltest, dann doch, daß es nichts mit einem Gebet an die Überseele zu tun hat, wenn man auf sich einsticht und alles mit Blut versaut.«
»Genau«, sagte Nafai. »Das habe ich von einem Mann gelernt, der plötzlich mit einer Vision von Feuer auf einem Felsen nach Hause kommt. Ich dachte, er hätte seine Meinung geändert.«
»Ich bekam meine Vision, ohne zu bluten«, sagte Vater. »Aber deshalb wollte ich euch nicht sprechen. Ich habe gehofft, ihr beide hättet irgend etwas von der Überseele empfangen, das mir helfen könnte.«
Nafai schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte Issib. »Hauptsächlich haben wir von der Überseele diese Gedankenstarre bekommen. Sie wollte damit verhindern, daß wir verbotene Gedanken denken.«
»Nun, damit hätte sich das erledigt«, sagte Vater. »Ich bin auf mich selbst angewiesen.«
»Wobei?« fragte Issib.
»Gaballufix hat mir heute über Elemak eine Nachricht zukommen lassen. Anscheinend ist Gaballufix genauso unzufrieden wie ich darüber, wie es heutzutage um Basilika steht. Hätte er gewußt, daß die Sache mit den Kriegswagen zu so einer großen Kontroverse führen wird, hätte er niemals damit angefangen. Er hat mich gebeten, ein Treffen zwischen ihm und Roptat zu arrangieren. Gaballufix sucht jetzt nur noch eine Möglichkeit, einen Rückzieher zu machen, ohne das Gesicht zu verlieren – und dazu, sagt er, müßte Roptat ebenfalls einen Rückzieher machen, so daß wir uns mit gar keiner anderen Macht verbünden.«
»Also hast du ein Treffen mit Roptat arrangiert?«
»Ja«, sagte Vater. »Im Morgengrauen, am Kühlhaus östlich vom Markttor.«
»Es klingt ganz danach«, sagte Nafai, »als habe sich Gaballufix der Meinung der Stadt-Partei angeschlossen.«
»So klingt es«, sagte Vater.
»Aber du glaubst ihm nicht«, sagte Issib.
»Ich weiß es nicht«, sagte Vater. »Sein Sinneswandel zeugt von Intelligenz und Vernunft. Doch wann war Gaballufix jemals intelligent oder vernünftig? In all den Jahren, die ich ihn kenne, selbst, als er noch ein junger Mann war, noch bevor er die Führung über den Klan an sich gerissen hatte, hat er nie etwas getan, das ihm nicht einen Vorteil über andere Leute verschaffte. Es gibt immer zwei Möglichkeiten, das zu vollbringen – indem man sich selbst aufbaut und seine Rivalen stürzt. In all diesen Jahren hat Gaballufix immer eine Vorliebe für das letztere gehabt.«
»Du glaubst also, er benutzt dich«, sagte Nafai, »um an Roptat heranzukommen.«
»Irgendwie will er Roptat betrügen und vernichten«, sagte Vater. »Und schließlich werde ich Rückschau halten und begreifen, wie er mich zu diesem Zweck benutzt hat. Ich habe das schon einmal erlebt.«
»Warum hilfst du ihm also?« fragte Issib.
»Weil es eine Chance gibt, nicht wahr? Eine Chance, daß er es ehrlich meint. Wenn ich mich weigere, zwischen ihnen zu vermitteln, ist es meine Schuld, wenn die Zustände in Basilika noch schlimmer werden, als sie es schon sind. Also muß ich sein Wort doch für bare Münze nehmen, oder?«
»Du kannst nur dein Bestes geben«, sagte Nafai, womit er einen Satz zitierte, den Vater schon in vielen vorhergehenden Gesprächen benutzt hatte.
»Halte die Augen auf«, sagte Issib und benutzte damit ein weiteres Epigramm Vaters.
»Ja«, sagte Vater. »Das werde ich.«
Issib nickte weise.
»Vater«, sagte Nafai, »darf ich dich morgen früh begleiten?«
Vater schüttelte den Kopf.
»Ich will es aber. Und vielleicht bemerke ich etwas, das du übersiehst. Wenn du zum Beispiel mit den Leuten sprichst, kann ich sie im Auge behalten und ihre Reaktionen beobachten. Ich könnte dir wirklich helfen.«
»Nein«, sagte Vater. »Wenn ich nicht allein komme, bin ich kein glaubwürdiger Vermittler.«
Aber Nafai wußte, daß dies nicht stimmte. »Ich glaube, du befürchtest, daß etwas Häßliches geschehen wirst, und willst mich nicht dabei haben.«
Vater zuckte mit den Achseln. »Ich habe meine Befürchtungen. Schließlich bin ich dein Vater.«
»Aber ich habe keine Angst, Vater.«
»Dann bist du anscheinend dummer, als ich es befürchtet habe«, sagte Vater. »Und jetzt geht zu Bett, alle beide.«
»Dafür ist es noch viel zu früh«, sagte Issib.
»Dann geht eben nicht zu Bett.«
Vater wandte sich von ihnen ab und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Computer.
Das war ein klares Zeichen, daß sie entlassen waren, doch Nafai mußte unbedingt noch eine Frage stellen. »Wie willst du hoffen, Vater, in den uralten, toten Worten der Überseele einen Hinweis zu finden, wenn sie nicht einmal direkt mit dir spricht?«
Vater seufzte und sagte nichts.
»Komm, Nafai«, sagte Issib, »laß Vater in Ruhe nachdenken.«
Nafai folgte Issib aus der Bibliothek. »Warum will einfach niemand meine Fragen beantworten?«
»Weil du nie aufhörst, sie zu stellen«, sagte Issib, »und besonders, weil du sie selbst dann noch stellst, wenn längst klar ist, daß niemand die Antworten kennt.«
»Aber woher soll ich wissen, daß sie die Antworten nicht kennen, wenn ich nicht frage?«
»Geh auf dein Zimmer und gib dich schmutzigen Gedanken hin«, sagte Issib. »Warum kannst du dich einfach nicht wie ein normaler Vierzehnjähriger benehmen?«
»Genau«, sagte Nafai. »Als wäre ich der einzige Normale in der Familie.«
»Jemand muß es doch sein.«
»Was glaubst du, weshalb war Meb wohl im Tempel?«
»Um dafür zu beten, daß du jedesmal, wenn du eine Frage stellst, eine Hämorrhoide bekommst.«