»Nein, deshalb warst du im Tempel. Kannst du dir vorstellen, daß Meb betet?«
»Und seinen wunderschönen Körper verletzt?« Issib lachte.
Sie waren auf dem Hof, vor Issibs Zimmer. Sie hörten einen Schritt, drehten sich um und sahen Mebbekew, der in der Küchentür stand. Die Küche war dunkel gewesen; sie hatten angenommen, daß Truzhnischa nach Hause gegangen und niemand mehr dort war. Meb mußte ihr gesamtes Gespräch mitbekommen haben.
Nafai fiel nichts ein, was er sagen konnte. Natürlich hieß das nicht, daß er seine Zunge im Zaum hielt. »Du bist anscheinend nicht lange im Tempel geblieben, Meb?«
»Nein«, sagte Meb. »Aber ich habe gebetet, falls dich das überhaupt etwas angeht.«
Nafai schämte sich. »Es tut mir leid.«
Issib schämte sich nicht. »Ach, hör doch auf«, sagte er. »Zeig mir mal eine Narbe.«
»Zuerst muß ich dich etwas fragen, Issja«, sagte Meb.
»Klar«, sagte Issib.
»Hast du einen Schweber an deinem Pimmel kleben, damit er ihn hochhält, wenn du pinkelst? Oder läßt du es einfach wie ein Mädchen hinabtropfen?«
Es war zu dunkel, als daß Nafai sehen konnte, ob Issib errötete oder nicht. Er konnte nur mit Sicherheit sagen, daß Issib schweigend vom Hof zu seinem Zimmer glitt.
»Das war mutig«, sagte Nafai. »Einen Krüppel zu verspotten.«
»Er hat mich einen Lügner genannt«, sagte Meb. »Soll ich ihn dafür küssen?«
»Er hat einen Scher^ gemacht.«
»Es war nicht lustig.«
Nafai ging auf sein Zimmer, doch er hatte noch keine Lust, zu Bett zu gehen. Er war verschwitzt, obwohl die Nacht ziemlich kühl war. Seine Haut juckte. Das mußten die Überreste des Bluts und der Desinfektionsmittel aus dem Tempelbrunnen sein. Nafai konnte der Vorstellung nichts abgewinnen, seine Verletzungen mit Seife in Berührung zu bringen, doch das schleimige Jucken wurde immer unerträglicher. Also zog er sich aus und ging zur Dusche. Diesmal spülte er sich erst ab; das Wasser war entsetzlich kalt, obwohl die Sonne es den ganzen Tag über erwärmt hatte. Und es brannte fürchterlich, als er sich einseifte – vielleicht war der Schmerz schlimmer als in dem Augenblick, da er sich die Wunden beigebracht hatte, obwohl er wußte, daß dies wahrscheinlich eine subjektive Wahrnehmung war. Der Schmerz des Augenblicks ist immer der schlimmste, hatte Vater oft gesagt.
Als er sich in elendiger, dunkler Stille einseifte, sah er, daß Elemak hereinkam. Er ging direkt zu Vaters Zimmern und kehrte kurz darauf wieder zurück, um das Tor abzuschließen. Und nicht nur das äußere Tor, auch das innere. Das war ziemlich ungewöhnlich; Nafai konnte sich nicht daran erinnern, wann er das Innentor zum letzten Mal abgeschlossen vorgefunden hatte. Vielleicht einmal bei einem Sturm. Oder, als sie einen Hund dressierten und ihn des Nachts zwischen den Toren schlafen ließen. Aber jetzt gab es weder einen Sturm, noch hatten sie einen neuen Hund.
Elemak ging auf sein Zimmer. Nafai zog die Schnur und lieferte sich wieder dem eiskalten Wasser aus, rieb über seine Wunden, um die Seife herunterzubekommen, bevor der Fluß des Wassers versiegte. Verflucht sei Vater wegen seiner absurden Sturheit, seine Söhne unbedingt abhärten und Männer aus ihnen machen zu wollen! Nur die Armen mußten mit so kaltem Wasser duschen!
Diesmal waren zwei Duschgänge nötig, und er wartete lange in dem kalten Wind, bis sich der Duschtank wieder gefüllt hatte. Als Nafai schließlich zurück auf seinem Zimmer war, schnatterte und zitterte er vor Kälte, und selbst, als er sich noch einmal abgerieben und angezogen hatte, wurde ihm nicht warm. Fast hätte er die Zimmertür geschlossen, woraufhin die Heizung angesprungen wäre – aber er und seine Brüder machten immer einen Wettstreit daraus, wer im Winter als letzter die Zimmertür schloß, und er hatte nicht vor, diese Schlacht heute zu verlieren und damit einzugestehen, daß ein kleines Gebet ihn so sehr geschwächt hatte. Statt dessen zog er all seine Kleider stücke aus der Truhe, legte sie auf die Matte und kroch darunter.
Natürlich gab es für ihn keine bequeme Schlafposition, doch wenn er sich auf die Seite legte, hatte er die geringsten Schmerzen. Zorn und Schmerzen und Sorgen verhinderten, daß er sofort einschlafen konnte; er hatte den Eindruck, überhaupt keinen Schlaf zu bekommen, während er den leisen Geräuschen der anderen lauschte, die zu Bett gingen, und dann der endlosen Stille des nächtlichen Hofs. Dann und wann vernahm er den Schrei eines Vogels, das Bellen eines verwilderten Hundes in den Hügeln oder ein leises, ruheloses Geräusch der Pferde im Stall oder der Packtiere in den Scheunen.
Und dann mußte er doch eingeschlafen sein; wie sonst hätte er so plötzlich und verwirrt aufwachen können? Hatte ihn ein Geräusch geweckt? Oder ein Traum? Was hatte er überhaupt geträumt? Er zitterte, aber nicht vor Kälte – er schwitzte sogar stark unter seinem Kleider Stapel.
Er stand auf und warf die Kleidung in die Truhe zurück. Er versuchte, möglichst leise zu sein, als er sie öffnete und wieder schloß – er wollte niemanden aufwecken. Jede Bewegung verursachte ihm Schmerzen. Er begriff, daß er Fieber haben mußte – seine Muskeln waren ganz steif, und er war unter der Kleidung ganz heiß. Und doch schienen seine Gedanken – und auch seine Sinne – bemerkenswert klar zu sein. Wenn dies ein Fieber war, war es ein sehr seltsames, denn er hatte sich noch nie so wach und lebendig gefühlt. Trotz der Schmerzen hatte er den Eindruck, es hören zu können, wenn im Stall eine Maus über einen Balken lief.
Er ging auf den Hof und blieb dort stumm stehen. Der Mond war noch nicht aufgegangen, doch die klare Nacht wurde von vielen hellen Sternen erhellt. Das Tor war noch immer abgeschlossen. Doch warum hatte er sich Gedanken darüber gemacht? Wovor hatte er Angst? Was hatte er in seinem Traum gesehen?
Die Türen von Mebs und Eljas Zimmern waren geschlossen. Das ist doch ein Witz – ich liege verletzt und wund da und lasse meine Tür offen, während die beiden ihre Türen wie kleine Kinder schließen.
Oder vielleicht machen sich nur kleine Kinder Gedanken um einen so bedeutungslosen Wettstreit der Männlichkeit.
Draußen war es kälter denn je, und nun hatte sich die fieberhafte Hitze abgekühlt, die ihn aus dem Bett getrieben hatte. Doch er kehrte noch nicht auf sein Zimmer zurück, obwohl er es eigentlich wollte. Statt dessen dämmerte ihm endlich, daß er sich schon mehrere Male entschlossen hatte, auf sein Zimmer zurückzukehren, und jedesmal waren seine Gedanken abgeschweift, und er hatte keinen einzigen Schritt getan.
Die Überseele, dachte er. Die Überseele will, daß ich wach bleibe. Vielleicht will sie, daß ich etwas tue. Aber was?
Zu diesem Zeitpunkt des Monats bedeutete die Tatsache, daß der Mond noch nicht aufgegangen war, daß noch drei Stunden bis zum Sonnenaufgang vergehen würden. Also zwei Stunden, bevor Vater aufstehen und sich zu seinem Treffen am Kühlhaus einfinden mußte, wo die Pflanzen aus dem eisigen Norden gepflegt und gezogen wurden.
Warum fand das Treffen dort statt?
Nafai verspürte den unerklärlichen Drang, hinauszugehen und in nordöstliche Richtung über das Tsivet-Tal zu den hohen Hügeln auf der anderen Seite zu schauen, wo das Musiktor die südöstliche Begrenzung Basilikas darstellte. Es war lächerlich, und das Geräusch, das entstand, wenn er die Tore öffnete, würde vielleicht jemanden wecken. Doch mittlerweile wußte Nafai, daß die Überseele sich diese Nacht mit ihm in Verbindung gesetzt hatte, daß sie versuchte, ihn davon abzuhalten, wieder zu Bett zu gehen; konnte dieser Drang, hinaus zu gehen, nicht auch von der Überseele kommen? Hatte Nafai heute nicht gebetet – konnte das nicht eine Antwort sein? War es nicht möglich, daß dieser Drang, nach draußen zu gehen, mit dem Drang vergleichbar war, den Vater verspürt, der ihn von der Wüstenstraße zu der Stelle gelockt hatte, von der aus er die Feuervision sehen konnte?
War es möglich, daß auch Nafai eine Vision der Überseele erhalten würde?