Er ging geschmeidig und leise zum Tor und hob den schweren Riegel. Keine Geräusche; seine Sinne und Reflexe waren so wach und lebendig, daß er sich mit perfekter Stille bewegen konnte. Das Tor quietschte leise, als er es öffnete – aber er mußte es nur so weit öffnen, daß er hindurchschlüpfen konnte.
Das äußere Tor wurde öfter geöffnet und geschlossen, und so ließ es sich leichter und leiser bewegen. Nafai trat in dem Augenblick hinaus, in dem sich der Mond als Bogen über den Gipfeln der Seggidugu-Berge im Osten zeigte. Er wollte um das Haus herumgehen, bis er das Kühlhaus sehen konnte, doch bevor er auch nur ein paar Schritte getan hatte, hörte er ein Geräusch aus dem Zimmer der Reisenden.
Wie es in allen Haushalten in diesem Teil der Welt Brauch war, verfügte jedes Haus über ein Zimmer, dessen Tür sich nach draußen öffnete und niemals abgeschlossen war – ein anständiges Zimmer, in dem ein Reisender Zuflucht vor einem Sturm oder der Kälte oder Erschöpfung suchen konnte. Vater nahm die Verpflichtung, Fremden Gastfreundschaft zu erweisen, ernster als die meisten, und bot ihnen nicht nur ein Zimmer, sondern auch ein Bett und sauberes Leinen und einen Schrank mit Reiseproviant. Nafai wußte nicht genau, welcher Bedienstete die Verantwortung für diesen Raum hatte, er hatte jedoch mitbekommen, daß das Zimmer oft benutzt wurde und die Vorräte oft ergänzt werden mußten. Also hätte ihn die Vorstellung, es könne sich jemand darin aufhalten, nicht überraschen dürfen.
Und doch wußte er, daß er an der Tür stehenbleiben und hineinspähen mußte.
Durch den Türspalt fiel schwaches Licht in das Zimmer der Reisenden. Nafai öffnete die Tür etwas weiter, das Licht fiel auf das Bett, und er sah in die weit aufgerissenen Augen … Luets.
»Du«, flüsterte er.
»Du«, erwiderte sie. Sie klang erleichtert.
»Was hast du hier zu suchen?« fragte er. »Wer ist bei dir?«
»Ich bin allein«, sagte sie. »Ich wußte nicht genau, zu wem ich kam. Zu wessen Haus. Ich war nie zuvor außerhalb der Stadtmauern.«
»Wann bis du hier angekommen?«
»Vor ein paar Momenten. Die Überseele hat mich geführt.«
Natürlich. »Weshalb?«
»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Damit ich von meinem Traum erzähle, glaube ich. Ich bin wegen eines Traums wach geworden.«
Nafai dachte an seinen eigenen Traum, an den er sich nicht erinnern konnte.
»Ich war so … froh«, sagte sie. »Daß sich die Überseele wieder gemeldet hat. Aber der Traum war schrecklich.«
»Was war das für ein Traum?«
»Bist du es, dem ich ihn erzählen soll?« fragte sie.
»Woher soll ich das wissen?« erwiderte er. »Aber ich bin hier.«
»Hat die Überseele dich hierher geführt?«
Nachdem sie ihm die Frage so direkt gestellt hatte, konnte er ihr nicht ausweichen. »Ja«, sagte er. »Ich glaube schon.«
Sie nickte. »Dann erzähle ich ihn dir. Es ergibt schon Sinn, daß es sich um deine Familie handelt. Denn es gibt so viele Menschen, die deinen Vater wegen seiner Vision hassen und wegen seines Muts, sie zu verkünden.«
»Ja«, sagte er, und dann, als Stichwort: »Der Traum.«
»Ich sah einen Mann, der allein und zu Fuß unterwegs war und schnurstracks geradeaus ging. Er ging durch Schnee. Doch ich wußte, daß es diese Nacht war, obwohl keine einzige Schneeflocke auf dem Boden liegt. Verstehst du, wie ich etwas wissen kann, obwohl es sich von dem unterscheidet, was mir der Traum eigentlich zeigt?«
Nafai erinnerte sich an das Gespräch im Säulengang vor einer Woche und nickte.
»Es hat also geschneit, und doch war es diese Nacht. Der Mond war aufgegangen, ich wußte, daß es bald dämmern würde. Und als der Mann durch den Schnee ging, sprangen zwei Männer, die Masken trugen, vor ihm auf die Straße. Sie hielten Messer in den Händen. Der Mann schien sie trotz der Masken zu erkennen. ›Hier ist meine Kehle‹, sagte er. ›Ich trage keine Waffen. Ihr hättet mich jederzeit töten können, auch, als ich wußte, daß ihr meine Feinde seid. Warum mußtet ihr mir erst einreden, ich könnte euch vertrauen? Hattet ihr Angst, daß der Tod mir nicht genug ausmacht, wenn ich nicht mit dem Gefühl sterbe, verraten worden zu sein?‹«
Nafai hatte bereits den Zusammenhang zwischen Luets Traum und Vaters Treffen erkannt, das in wenigen Stunden bevorstand. »Gaballufix«, sagte er.
Luet nickte. »Jetzt verstehe ich es – aber erst, nachdem ich wußte, daß ich mich im Haus deines Vaters befinde.«
»Nein – Gaballufix hat Vater gebeten, heute morgen ein Treffen zwischen ihm und Roptat zu arrangieren, am Kühlhaus.«
»Der Schnee«, sagte sie.
»Ja«, sagte er, »in den Ecken liegt immer Reif.«
»Und Roptat«, flüsterte sie. »Das erklärt … den nächsten Teil des Traums.«
»Erzähle ihn mir.«
»Ein Kapuzenträger griff nach der Maske seines Gefährten und enthüllte dessen Gesicht. Einen Augenblick lang glaubte ich, ein Grinsen auf seinen Zügen zu sehen, doch dann wurde meine Vision deutlicher, und ich begriff, daß das Grinsen nicht auf seinem Gesicht lag. Es war seine Kehle, die bis zur Wirbelsäule aufgeschlitzt war. Während ich ihn beobachtete, schaukelte sein Kopf hin und her, und die Wunde in seiner Kehle öffnete sich vollständig, als wäre sie ein Mund, der zu schreien versuchte. Und der Mann … derjenige, der ich in dem Traum war …«
»Ich verstehe«, sagte Nafai. »Vater.«
»Ja. Nur wußte ich das noch nicht.«
»Genau«, entgegnete Nafai ungeduldig.
»Dein Vater, falls es dein Vater war, sagte: ›Ich nehme an, es wird heißen, ich hätte ihn umgebracht.‹ Und der Mann mit der Kapuze sagte: ›Und du hast ihn in Wahrheit auch umgebracht, mein lieber Verwandter.‹«
»Das sieht ihm ganz ähnlich«, sagte Nafai. »Also soll auch Roptat sterben.«
»Ich bin noch nicht fertig«, sagte Luet. »Oder besser, der Traum war noch nicht zu Ende. Denn der Mann – dein Vater – sagte: ›Und wer soll denn angeblich mich umgebracht haben?‹ Und der Mann mit der Kapuze sagte: ›Ich nicht. Ich würde niemals eine Hand gegen dich heben, denn ich liebe dich sehr. Ich werde nur deine Leiche finden, und die Mörder, die mit blutverschmierten Händen über ihr stehen.‹ Dann lachte er und verschwand wieder in den Schatten.«
»Also tötet er Vater nicht.«
»Nein. Dein Vater drehte sich dann um und sah zwei andere Männer mit Kapuzen hinter ihm stehen. Und obwohl sie nicht sprachen oder die Kapuzen hoben, kannte er sie. Ich spürte eine schreckliche Trauer. ›Du konntest nicht warten‹, sagte er zu dem einen. ›Du konntest mir nicht verzeihen‹, sagte er zu dem anderen. Und dann stachen sie mit ihren Klingen zu und brachten ihn um.«
»Bei der Überseele, nein«, sagte Nafai. »Das würden sie nicht tun.«
»Wer? Kennst du sie?«
»Erzähle niemandem den letzten Teil deines Traums«, sagte Nafai. »Schwöre es mir mit deinem heiligsten Eid.«
»Das werde ich nicht tun«, sagte sie.
»Meine Brüder sind heute abend zu Hause«, sagte Nafai. »Sie liegen nicht im Hinterhalt, um Vater aufzulauern.«
»Dann sind sie die Maskierten? Deine Brüder?«
»Nein!« sagte er. »Niemals.«
Sie nickte. »Ich werde dir keinen Eid leisten, nur mein Versprechen geben. Wenn ich deinen Vater vor dem Tod gerettet habe, indem ich hierher gekommen bin, werde ich niemandem sonst diesen Teil des Traums erzählen.«
»Nicht einmal Huschidh«, sagte er.
»Aber ich werde dir noch ein Versprechen geben«, sagte sie. »Wenn dein Vater stirbt, weiß ich, daß du ihn nicht gewarnt hast. Und daß du zu den Maskierten im Traum gehörst – denn wenn du den Plan kennst und ihn nicht warnst, könntest du genausogut selbst mit einer Elektroklinge zustechen.«