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»Glaubst du, das wüßte ich nicht?« sagte Nafai. Er war einen Augenblick lang darüber wütend, daß sie glaubte, sie müsse ihm die Probleme dieser Situation erklären. Doch dann glitten seine Gedanken weiter, denn Luets Warnung erklärte auch einige andere Vorfälle des gestrigen Tages. »Deshalb ging Meb beten«, sagte Nafai, »und deshalb hat Elja das innere Tor abgeschlossen. Sie haben etwas gewußt oder vermutet und hatten trotzdem Angst, es ihm zu sagen. Darin liegt die Bedeutung des Traums – nicht, daß sie jemals die Hand gegen Vater erheben werden, sondern daß sie es gewußt und ihn trotzdem nicht gewarnt haben.«

Sie nickte. »So ist es oftmals mit Träumen«, sagte sie. »Das könnte eine wahre Bedeutung sein, und mein Kopf wird auch nicht leer, wenn ich diesen Gedanken denke.«

»Vielleicht weiß es die Überseele selbst nicht.«

Sie griff nach seiner Hand und tätschelte sie. Er kam sich vor wie ein Kind, obwohl sie jünger und viel kleiner als er war. Er verabscheute sie dafür.

»Die Überseele weiß es«, sagte sie.

»Nicht alles«, sagte er.

»Alles, was man wissen kann«, sagte sie und ging zur Tür des Zimmers der Reisenden. »Erzähle niemandem, daß ich hier war«, sagte sie.

»Bis auf Vater«, sagte er.

»Kannst du nicht behaupten, du hättest diesen Traum gehabt?«

»Warum?« fragte Nafai. »Deinem Traum würde er glauben. Meiner würde … ihm nichts bedeuten.«

»Du unterschätzt deinen Vater. Und auch die Überseele, glaube ich. Und dich selbst.« Sie trat auf den vom Mondlicht erhellten Hof vor dem Haus und wollte sich nach rechts wenden, zur Kammstraße.

»Nein«, flüsterte er und ergriff ihren Arm. Sie war wirklich klein und zerbrechlich, ein so junges Mädchen mit so zarten Knochen. »Gehe nicht am Tor vorbei.«

Sie bedachte ihn mit einem fragenden Blick aus ihren weit geöffneten Augen, in denen sich der Mond spiegelte.

»Vielleicht mache ich jemanden wach, wenn ich es öffne«, erklärte er.

Sie nickte. »Ich gehe um das Haus herum.«

»Luet«, sagte er.

»Ja?«

»Wird dir auch nichts passieren, wenn du jetzt nach Hause gehst?«

»Der Mond ist aufgegangen«, sagte sie. »Und der Wachtposten am Rauchfang-Tor wird mir keine Schwierigkeiten machen. Die Überseele hat ihn einschlafen lassen, als ich die Stadt verließ.«

»Luet«, sagte er und rief sie erneut zurück.

Erneut blieb sie stehen und wartete auf seine Worte.

»Danke«, sagte er. Die Worte waren nichts im Vergleich zu dem, was er in seinem Herzen empfand. Sie hatte seinem Vater das Leben gerettet – und es War mutig von einem Mädchen, das noch nie die Stadt verlassen hatte, den ganzen Weg hierher im Sternenlicht zurückzulegen, nur von einem Traum geleitet.

Sie zuckte mit den Schultern. »Die Überseele hat mich geschickt. Danke ihr.« Dann war sie fort.

Nafai kehrte zum Tor zurück, und diesmal machte er absichtlich Lärm, als er es öffnete und wieder schloß. Er wollte nicht, daß seine Rückkehr überraschend kam, falls einer seiner Brüder lauschte oder ihn beobachtete. Soll er mich doch hören und auf sein Zimmer zurückkehren, bevor ich das innere Tor erreicht habe.

Wie er gehofft hatte, war der Hof leer, als er ihn betrat. Er ging direkt zu Vater, durch den öffentlichen Raum und die Bibliothek zu dem Privatzimmer, in dem er allein schlief. Dort lag er auf dem kahlen Boden, ohne irgendeine Matte; sein weißer Bart ergoß sich auf den Stein. Nafai blieb einen Augenblick lang stehen und stellte sich vor, er läge mit aufgeschnittener Kehle dort und der Bart wäre vom Blutstrom rötlich braun gefärbt.

Dann bemerkte er, daß Vaters Augen glänzten. Er war wach.

»Bist du derjenige?« flüsterte Vater.

»Was meinst du?«

Vater setzte sich langsam und müde auf. »Ich habe einen Traum gehabt. Es war nichts – nur meine Furcht.«

»Noch jemand hat diese Nacht einen Traum gehabt«, sagte Nafai. »Ich habe gerade im Raum der Reisenden mit ihr gesprochen. Aber es ist besser, wenn du niemandem erzählst, daß sie hier war.«

»Wer?«

»Luet«, sagte er. »Und ihr Traum soll dich vor dem Treffen heute morgen warnen. Wenn du gehst, wartet ein Mord auf dich.«

Vater sprang auf und schaltete das Licht ein. Nafai blinzelte in der plötzlichen Helligkeit. »Dann war es doch nicht einfach nur ein Traum.«

»Ich glaube allmählich, daß es überhaupt keine bedeutungslosen Träume gibt«, sagte Nafai. »Ich habe auch geträumt und bin dadurch wach geworden, und die Überseele hat mich hinausgeführt, damit ich mit ihr spreche.«

»Ein Mord wartet auf mich. Den Rest kann ich mir zusammenreimen. Er wird auch Roptat ermorden und es so hinstellen, als hätte einer von uns den anderen umgebracht, und dann noch ein anderer den Mörder, und erst dann wird Gaballufix eintreffen, wahrscheinlich mit mehreren glaubwürdigen Zeugen, die schwören können, daß die Morde geschahen, bevor Gabja an Ort und Stelle war. Sie werden erzählen, wie sehr ihn der blutige Anblick entsetzt hat. Warum habe ich es nicht selbst gesehen? Warum sonst wollte er mich und Roptat zur selben Zeit an denselben Ort locken, ohne Gefolgsleute oder Zeugen?«

»Also wirst du nicht gehen«, sagte Nafai.

»Doch«, sagte Vater. »Doch, ich gehe.«

»Nein!«

»Aber nicht zum Kühlhaus«, sagte Vater. »Denn mein Traum hat mir etwas anderes gezeigt.«

»Was?«

»Zelte«, sagte er. »Meine Zelte, aufgestellt unter der Wüstensonne. Falls wir bleiben, wird Gaballufix es erneut versuchen, auf irgendeine andere Art. Und – es gibt noch andere Gründe, wieso wir gehen müssen. Ich muß meine Söhne aus dieser Stadt bringen, bevor sie sie vernichtet.«

Nun wußte Nafai, daß Vaters Traum wirklich schrecklich gewesen sein mußte. Hatte er ihm gezeigt, daß einer seiner Söhne ihn töten würde? Das würde Vaters erste Worte erklären – bist du derjenige?

»Also gehen wir in die Wüste?«

»Ja«, sagte Vater.

»Wann?«

»Jetzt, natürlich.«

»Jetzt? Heute?«

»Jetzt. Diese Nacht. Vor dem Morgengrauen. Damit wir über dem Kamm sind, bevor seine Männer uns sehen können.«

»Aber kommen wir dann nicht direkt an Gaballufix’ Haushalt vorbei, wo der Gewundene Pfad auf die Wüstenstraße stößt?«

»Es gibt einen anderen Weg«, sagte Vater. »Nicht der beste für Kamele, aber wir müssen es schaffen. Über ihn kommen wir ein gutes Stück hinter Gabjas Haus auf die Wüstenstraße. Jetzt komm, hilf mir, deine Brüder zu wecken.«

»Nein«, sagte Nafai.

Vater drehte sich zu ihm um, und die Verwirrung ließ ihn zögern, seiner Wut über den Ungehorsam Ausdruck zu verleihen.

»Luet hat verlangt … daß niemand erfährt, daß sie uns gewarnt hat. Und sie hat recht. Sie sollten auch nichts von mir wissen. Es kann doch dein Traum gewesen sein.«

»Warum?« fragte Vater. »Wenn die Überseele in dieser Nacht drei Menschen berührt hat …«

»Wenn es dein Traum war, werden sie sich fragen, was du gesehen hast, was du weißt. Aber wenn es die Träume anderer waren, werden sie vermuten, daß wir dich täuschen und manipulieren. Sie werden streiten. Sie werden sich sträuben. Und du willst sie doch mitnehmen, Vater.«

Vater nickte. »Du bist sehr klug«, sagte er. »Für einen Jungen von vierzehn Jahren.«

Doch Nafai wußte, daß er nicht klug war. Er hatte einfach den Vorteil, den Rest von Luets Traum zu kennen. Falls Meb und Elja zurückblieben, würden sie vollständig von Gaballufix’ Maschinerie verschluckt werden. Sie würden jeden Anstand verlieren, der ihnen noch geblieben war. Und es mußte noch etwas Gutes in ihnen sein. Vielleicht hatten sie sogar vorgehabt, Vater zu warnen. Vielleicht hatte Elja das Innentor geschlossen, damit er von dem Geräusch geweckt wurde, das Vater beim Aufbruch machte – dann konnte er Vater immer noch warnen, nicht zu gehen!