Oder vielleicht wollte er Vater auch nur folgen, damit er direkt hinter ihm stehen konnte, wenn er im Kühlhaus Roptats gemeuchelten Körper fand.
Nein! rief Nafai innerlich. Nicht Elemak. Es ist gemein von mir, auch nur zu denken, daß er dazu imstande sein könnte. Meine Brüder sind keine Mörder, keiner von ihnen.
»Geh auf dein Zimmer«, sagte Vater. »Oder noch besser auf die Toilette. Und dann komme heraus und leiste stummen Gehorsam. Nicht mir – Elja gegenüber. Er weiß, wie man für so eine Reise packen muß.«
»Ja, Vater«, sagte Nafai.
Augenblicklich verließ er Vaters Zimmer, ging durch die Bibliothek und den öffentlichen Raum auf den Hof. Elemaks und Mebbekews Türen waren noch geschlossen. Nafai lief zur Latrine, die nur von zwei Mauern umsäumt und zum Hof hin offen war. Er hatte sie gerade erreicht, als er hörte, daß Vater an Mebbekews Tür klopfte. »Wach auf, aber sei leise«, sagte Vater. Dann klopfte er gegen Elemaks Tür. »Kommt auf den Hof.«
Er hörte, daß alle herauskamen – auch Issib, obwohl ihn niemand eigens gerufen hatte.
»Wo ist Njef?« fragte Issib.
»Auf der Latrine«, sagte Vater.
»Das ist eine gute Idee«, sagte Meb.
»Du mußt noch einen Augenblick warten«, sagte Vater.
Nafai verließ den Verschlag, und die Toilette spülte automatisch ab. Zumindest verlangte Vater von ihnen nicht, in völliger Primitivität zu leben.
»Tut mir leid«, sagte Nafai. »Ich wollte dich nicht warten lassen.« Meb funkelte ihn an, aber zu schläfrig, als daß Nafai es als Androhung einer bevorstehenden Prügelei aufgefaßt hätte.
»Wir brechen auf«, sagte Vater. »In die Wüste.«
»Wir alle?« fragte Issib.
»Es tut mir leid, ja«, sagte Vater. »Du mußt deinen Stuhl nehmen. Ich weiß, es ist nicht dasselbe wie die Schweber, aber besser als nichts.«
»Warum?« fragte Elemak.
»Die Überseele hat mich mit einem Traum gewarnt«, sagte Vater.
Meb machte ein verächtliches Geräusch und schickte sich an, auf sein Zimmer zurückzukehren.
»Du bleibst hier und hörst mir zu«, sagte Vater, »denn wenn du nicht mitkommst, wirst du nicht mehr mein Sohn sein.«
Meb blieb stehen und hörte zu, wenngleich er Vater noch den Rücken zuwandte.
»Man hat vor, mich zu töten«, sagte Vater. »Heute morgen. Ich soll zu einem Treffen mit Gaballufix und Roptat kommen, und dort soll ich sterben.«
»Gabja gab mir sein Wort«, sagte Elemak, »daß niemandem etwas geschieht.«
Sieh an, jetzt nannte Elemak Gaballufix schon bei seinem Jungennamen.
»Die Überseele kennt sein Herz besser als sein eigener Mund«, sagte Vater. »Wenn ich gehe, werde ich sterben. Und selbst, wenn ich nicht heute sterbe, wird es nur eine Frage der Zeit sein. Nun, da Gaballufix sich entschlossen hat, mich zu töten, ist mein Leben hier verwirkt. Ich würde in der Stadt bleiben, wenn ich der Ansicht wäre, daß mein Tod irgendeinen Sinn hat – ich fürchte mich nicht davor. Doch die Überseele hat mir aufgetragen, in die Wüste zu gehen.«
»In einem Traum«, sagte Elemak.
»Ich brauche keinen Traum, um zu wissen, daß Gaballufix gefährlich ist, wenn man seine Pläne durchkreuzt«, sagte Vater, »und du auch nicht. Man kann unmöglich sagen, was Gaballufix tun wird, wenn ich heute morgen nicht zum Kühlhaus gehe. Ich muß schon in der Wüste sein, wenn er es herausfindet. Wir nehmen den Rotstein-Pfad.«
»Den schaffen die Kamele nicht«, sagte Elemak.
»Sie werden ihn bewältigen, weil sie ihn bewältigen müssen«, sagte Vater. »Wir nehmen Vorräte für ein Jahr mit.«
»Das ist ungeheuerlich«, sagte Mebbekew. »Da mache ich nicht mit.«
»Und was machen wir nach dem einen Jahr?«
»Bis dahin wird die Überseele mir eine Möglichkeit gezeigt haben«, sagte Vater.
»Vielleicht werden sich die Dinge in Basilika bis dahin soweit beruhigt haben, daß wir zurückkehren können«, meinte Issib.
»Wenn wir jetzt gehen«, sagte Elemak, »wird Gabja glauben, daß du ihn verraten hast, Vater.«
»Wirklich?« sagte Vater. »Und wenn ich bleibe, wird er mich verraten.«
»Hat dir ein Traum gesagt.«
»Hat mir mein Traum gesagt«, sagte Vater. »Ich brauche dich. Bleib hier, wenn du willst, aber nicht als mein Sohn.«
»Ich bin ganz gut zurechtgekommen, ohne dein Sohn zu sein«, sagte Mebbekew.
»Nein«, sagte Elemak. »Du warst ganz gut darin vorzugeben, du wärest nicht sein Sohn. Aber alle haben es gewußt.«
»Ich habe von meinem Talent gelebt.«
»Du hast von der Hoffnung der Theaterleute gelebt, du würdest Vater dazu bringen, in ihre Stücke zu investieren – oder du selbst würdest investieren, irgendwann einmal, aus deiner Erbschaft.«
Mebbekew sah aus, als habe man ihm eine Ohrfeige versetzt. »Du auch, Elja? Läuft es darauf hinaus?«
»Wir unterhalten uns später«, sagte Elemak. »Wenn Vater sagt, daß wir gehen, dann gehen wir – und wir haben keine Zeit zu verlieren.« Er wandte sich an Vater. »Nicht, weil du gedroht hast, mich zu enterben, alter Mann. Sondern, weil du mein Vater bist, und ich lasse es nicht zu, daß du in die Wüste gehst, und nur diese hier helfen dir, am Leben zu bleiben.«
»Ich habe dir alles beigebracht, was du weißt, Elja«, sagte Vater.
»Als du jünger warst«, sagte Elemak. »Und wir hatten immer Diener. Ich nehme an, wir lassen sie alle zurück.«
»Wir entlassen die Diener des Haushalts«, sagte Vater. »Während du die Tiere und Vorräte vorbereitest, Elja, schreibe ich Raschgallivak ein paar Anweisungen auf.«
In der nächsten Stunde arbeitete Nafai schneller, als er es je für möglich gehalten hätte. Alle, sogar Issib, hatten ihre Aufgaben bekommen, und Nafai bewunderte Elemak erneut wegen seines großen Geschicks bei diesen Dingen. Er wußte immer genau, was getan werden mußte, wer es tun sollte und wie lange es dauern würde; er wußte auch, wie er es schaffen konnte, daß sich Nafai wie ein Idiot vorkam, weil er seine Aufgaben nicht schneller bewältigte.
Endlich waren sie fertig – eine echte Wüstenkarawane, ausschließlich mit Kamelen, obwohl sie die temperamentvollsten der Packtiere waren. Issibs Stuhl war auf der einen Seite eines Kamels festgeschnallt, Säcke mit pulverisiertem Wasser auf der anderen. Das Wasser wollten sie für Notfälle aufheben; Vater und Elemak kannten alle Wasserstellen der ersten Wegstrecke, und außerdem gingen gelegentlich Herbstregenfälle auf die Wüste nieder; es würde ausreichend Wasser geben. Doch im nächsten Sommer würde es trockener sein, und dann würde es zu spät sein, um nach Basilika zurückzukehren, um sich das kostbare Pulver zu besorgen. Und was, wenn sie verfolgt und in unbekannten Wüstenregionen gejagt wurden? Dann kamen sie vielleicht nicht umhin, etwas von dem Pulver in eine Pfanne zu geben, es anzuzünden und zu beobachten, wie es zu Wasser verbrannte, wobei es der Luft Sauerstoff entnahm. Nafai hatte es einmal probiert – auf Grund der Chemikalien, die den Wasserstoff in pulverisierter Form banden, schmeckte es faulig, dünn und abscheulich. Aber falls sie es einmal brauchten, würden sie froh sein, es zu haben.
Issibs Stuhl würde am wenigsten Freude bringen. Nafai wußte, daß Issja diese Reise am schwersten fallen würde, da er auf seine Flossen verzichten mußte und an den Stuhl gefesselt sein würde. Die Schwebeflossen vermittelten ihm das Gefühl, sein Körper wäre leicht und stark; im Stuhl fühlte er nur, wie die Schwerkraft ihn niederdrückte, und es erforderte seine ganze Kraft, die Kontrollen zu bedienen. Am Ende eines Tages im Stuhl war Issja immer blaß und erschöpft. Wie würde es sein, wenn er Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat im Stuhl leben mußte? Vielleicht würde er stärker werden. Vielleicht würde er schwächer werden. Vielleicht auch würde er sterben. Möglicherweise würde die Überseele ihm aber Kraft geben.