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»Du glaubst, alle Visionen müßten sich bei dir einstellen«, sagte die heilige Frau. »Aber manche Dinge sind zu klar, als daß du sie erkennen könntest. Oder?«

Ich weiß nicht, was ich von dieser freundlichen, heiligen Frau halten soll. Ich habe nie um Visionen gebeten und wünsche mir oft, andere Leute hätten sie. Aber wenn du darauf bestehst, mir eine Nachricht zu übermitteln, dann habe bitte den Anstand, sie so verständlich wie möglich auszudrücken. Das versuche ich auch immer.

Luet versuchte, keine Abneigung in ihre Stimme treten zu lassen, doch sie konnte dem Drang nicht widerstehen, auf einer klärenden Antwort zu beharren. »Wer ist dieser er, von dem du ständig sprichst?«

Die Frau versetzte ihr eine heftige Ohrfeige. Sie trieb Tränen in Luets Augen – Tränen der Scham genauso wie des Schmerzes. »Was habe ich getan?«

»Ich habe dich nun für die Entweihung bestraft, die du begehen wirst«, sagte die heilige Frau. »Die Bestrafung wurde vollzogen, und niemand kann verlangen, daß du erneut dafür büßt.«

Luet wagte es nicht, weitere Fragen zu stellen; die Antworten gefielen ihr nicht. Statt dessen betrachtete sie die Frau, versuchte herauszufinden, ob Verständnis in ihren Augen lag. War sie vielleicht doch schlichtweg verrückt? Mußte sie die wahre Stimme der Überseele sein? Um soviel leichter wäre es, wenn sie wahnsinnig wäre.

Die alte Frau streckte die Hand wieder nach Luets Wange aus. Luet zuckte kurz zurück, doch diesmal war die Berührung der Frau sanft, und sie wischte eine Träne von Luets Wange. »Habe keine Angst vor dem Blut an diesen Händen. Wie das Wasser der Vision wird die Überseele es als Gebet empfangen.«

Dann wurde das Gesicht der alten Frau schlaff und müde, und das Licht in ihren Augen erlosch. »Es ist kalt«, sagte sie.

»Ja.«

»Ich bin zu alt«, sagte sie.

Ihr Haar war nicht einmal grau, aber ja, dachte Luet, du bist sehr, sehr alt.

»Nichts ist hold«, sagte die heilige Frau. »Silber und Gold. Gefunden oder gewollt.«

Sie war eine Reimerin. Luet wußte, daß viele Leute glaubten, wenn eine heilige Frau zu reimen anfing, spräche die Überseele aus ihr. Aber dem war nicht so – die Reime waren eine Art Musik, die Stimme der Trance, die einige der heiligen Frauen von ihrem öden und schrecklichen Leben losmachte. Wenn sie zu reimen aufhörten, bestand eine Chance, daß sie sinnvolle Bemerkungen von sich gaben.

Die heilige Frau ging davon, als habe sie Luet völlig vergessen. Da sie ebenfalls vergessen zu haben schien, wo sich ihre geschützte Ecke befand, nahm Luet sie an der Hand und führte sie dorthin zurück, ermutigte sie, sich zu setzen und vor der Wand zusammenzurollen, die den Wind abwehrte. »Aus dem Wind«, flüsterte die heilige Frau. »Was sind sie blind.«

Luet ließ sie dort zurück und ging weiter in die Nacht. Der Mond stand jetzt höher, doch das hellere Licht trug kaum dazu bei, sie etwas aufzuheitern. Obwohl die heilige Frau an sich harmlos war, hatte sie Luet daran erinnert, wie viele Leute sich auf den Straßen aufhalten und in den Schatten verbergen mochten. Und wie verletzbar sie war. Es gab Geschichten von Männern, die Bürgerinnen genauso behandelt hatten, wie sie von Gesetzes wegen mit den heiligen Frauen umgehen durften. Doch selbst das war nicht ihre schlimmste Furcht.

Es liegt Mord in der Stadt, dachte Luet. Mord schwebt über diesem Ort, nicht Heiligkeit, und Gaballufix hat als erster daran gedacht. Ohne die Vision und Warnung, die ich im Auftrag der Überseele weitergegeben habe, wären gute Männer gestorben. Sie erschauderte erneut, als sie an den Mann mit der durchgeschnittenen Kehle in ihrer Vision dachte.

Endlich erreichte sie die Stelle, wo die Heilige Straße breiter wurde und sich ins Tal senkte; dort war sie eigentlich keine Straße mehr, sondern eine Schlucht, mit uralten Stufen, die man in den Fels gemeißelt hatte und die direkt zum See führten, der mit einem Hauch von Schwefel dort unten heiß dampfte. Den Frauen, die dort beteten, haftete dieser Geruch immer tagelang an. Er mochte heilig sein, doch Luet empfand ihn als äußerst unangenehm, und sie betete niemals dort. Sie zog die Stelle vor, wo sich das heiße und das kalte Wasser vermischte und sich der dichteste Nebel hob, wo die Strömungen mit ihren unterschiedlichen Temperaturen um sie herumwirbelten, wenn sie auf dem Wasser trieb. Dort tanzte ihr Körper ohne eigenes Zutun auf dem Wasser, und sie konnte sich ganz der Überseele hingeben.

Von wem hatte die heilige Frau gesprochen? Der ›er‹ mit Blut an den Händen, der ›er‹, den sie zum Wasser führen konnte – wahrscheinlich zum Wasser des Sees.

Nein, es hatte keine Bedeutung. Diese Heilige war eine der Verrückten gewesen, und ihre Worte ergaben keinen Sinn.

Der einzige Mann mit Blut an den Händen, der ihr einfiel, war Gaballufix. Wie konnte die Überseele wollen, daß sich so ein Mann dem heiligen See näherte? Würde die Zeit kommen, da sie Gaballufix’ Leben retten mußte? Wie konnte dies nur in die Pläne der Überseele passen?

Sie wandte sich nach links, auf die Turmstraße, und dann wieder nach rechts auf die Regenstraße, deren Kurven sie folgte, bis sie vor Rasas Haus stand. Natürlich. Die Überseele hatte sie beschützt. Die Nachricht, die sie überbracht hatte, war nicht die einzige Aufgabe, die die Überseele für sie im Sinn hatte; Luet würde noch weitere erfüllen müssen. Sie nahm diese Erkenntnis mit großer Erleichterung auf. Denn hatte ihre eigene Mutter Tante Rasa nicht erzählt, an dem Abend, an dem sie Luet als Kleinkind in Rasas Arme legte: »Diese wird nur solange leben, wie sie der Mutter der Mütter dient.« Die Mutter der Mütter hatte sie für eine andere Nacht bewahrt.

Luet hatte gehofft, in Rasas Haus zurückkehren zu können, ohne jemanden zu wecken, doch sie hatte nicht berücksichtigt, wie das neue Klima der Angst in der Stadt sogar den Haushalt des führenden Internats Basilikas verändert hatte. Die Eingangstür war von innen abgeschlossen. Noch immer in der Hoffnung, unbemerkt eindringen zu können, hielt sie nach einem Fenster Ausschau, durch das sie einsteigen konnte. Erst jetzt begriff sie, daß alle Fenster auf der Straßenseite einzig und allein den Zweck hatten, Licht und Luft hineinzulassen – viele vertikale Schlitze in der Mauer, mit komplizierten gemeißelten oder geschnitzten Entwürfen, doch keiner davon war breit genug, daß auch nur ein Kind mit Kopf und Schultern hindurchgepaßt hätte.

In Basilika herrscht nicht zum erstenmal Furcht, dachte sie. Dieses Haus war so gebaut, daß sich niemand des Nachts verstohlen Zugang verschaffen kann. Natürlich sollten diese Fenster auch vor Einbrechern schützen; doch vielleicht waren sie in erster Linie dazu gedacht, zurückgewiesene Freier und Gefährten, deren Eheverträge erloschen waren, daran zu hindern, sich mit Gewalt Zutritt zu einem Haus zu verschaffen, das sie mittlerweile vielleicht für das ihre hielten.

Die Vorkehrungen, die einem Mann den Zugang verwehrten, hinderten auch Luet daran, mochte sie noch so klein und schmächtig sein. Sie wußte natürlich, daß keine Möglichkeit bestand, um die Seiten des Hauses zu gelangen, da die benachbarten Gebäude direkt an die massiven Steinmauern von Rasas Haus gebaut waren.

Warum war ihr nicht der Gedanke gekommen, daß es viel schwerer sein würde, in das Haus zurückzukehren, als es zu verlassen? Sie war natürlich nach Anbruch der Dunkelheit aufgebrochen, doch noch lange vor der Zeit, da sich das Haus auf die Nacht vorbereitete; Huschidh wußte von ihrem Gang und würde verhindern, daß jemand ihre Abwesenheit entdeckte. Es war einfach keiner von beiden in den Sinn gekommen, dafür zu sorgen, daß Luet wieder ins Haus hineinkam. Tante Rasa hatte noch nie zuvor die Eingangstür abgeschlossen. Und später, nachdem die Überseele auf ihrem Weg aus der Stadt dafür gesorgt hatte, daß der Wächter schlief, und ihn bei ihrer Rückkehr ganz vom Tor ferngehalten hatte, war Luet einfach davon ausgegangen, daß die Überseele ihr den Weg ebnen würde.