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Luet überlegte, ob sie die Nacht auf dem Portal verbringen sollte. Doch es war jetzt ziemlich kalt. Solange sie sich in Bewegung befunden hatte, hatte das keine Rolle gespielt; das Laufen hatte sie warmgehalten. Doch es war gefährlich, hier draußen zu schlafen. Stadtfrauen, zumindest die guter Herkunft, besaßen nicht die richtige Kleidung, um im Freien zu schlafen. Was die heiligen Frauen gewöhnt waren, würde sie krank machen.

Doch vielleicht gab es eine andere Möglichkeit. War Tante Rasas Säulengang auf der Talseite des Hauses nicht völlig offen? Vielleicht würde sie es ja schaffen, vom Tal hinaufzuklettern. Natürlich war der Streifen genau östlich von Rasas Säulengang der verwildertste, leerste Teil der Klippe – er gehörte nicht einmal zu einem Bezirk. Obwohl die Sauerstraße dort in die Schlucht führte, führte kein Weg hinauf oder hinab; die Frauen gingen niemals dorther, um zum See zu gelangen.

Und doch wußte sie, daß sie diesen Weg einschlagen mußte, wollte sie in Tante Rasas Haus zurück.

Erneut die Überseele, die sie führte. Sie führte, aber ihr nichts verriet.

Warum nicht? fragte Luet zum tausendsten Mal. Warum kannst du mir nicht sagen, was du im Sinn hast? Wenn du mir gesagt hättest, daß ich zu Wetschiks Haus gehe, wäre ich nicht so ängstlich gewesen. Wie haben meine Furcht und Unwissenheit je deinen Zwecken gedient? Und nun schickst du mich zu dem wilden Land östlich von Tante Rasas Haus – zu welchem Zweck? Findest du Vergnügen daran, mit mir zu spielen? Oder bin ich zu dumm, deine Absicht zu begreifen? Ich bin wie die Brieftaube, die immer nach Hause zurückkehrt, imstande, deine Mitteilungen zu überbringen, aber niemals, zu sie erklären.

Und doch trat sie trotz ihres Grolls ein paar Minuten später von den letzten Kopfsteinen der Sauerstraße auf das Gras und tauchte dann in die weglosen Wälder der Klippe ein.

Der Boden war zerklüftet, und alle Risse und Brüche im Unterholz schienen abwärts zu führen, fort von Rasas Säulengang und hin zu den Klippen, die sich über der Schlucht der Heiligen Straße aufbäumten. Kein Wunder, daß nicht einmal die Klippen-Frauen hier Häuser bauten. Doch Luet ließ sich nicht von den leichten Wegen in die Irre führen -sie wußte, daß sie in dem Augenblick verschwinden würden, da sie begann, ihnen zu folgen. Statt dessen erzwang sie sich den Weg durchs Unterholz. Die Zaroseldornen hakten sich in ihrer Haut fest, und sie wußte, daß sie winzige Striemen hinterlassen würden, die noch tagelang schmerzen würden, selbst unter einer Schicht von Tante Rasas Salbe. Schlimmer war noch, daß sie fror und hundemüde und erschöpft war, so daß sie sich manchmal beim Aufwachen ertappte, obwohl sie gar nicht geschlafen hatte. Dennoch – sie hatte diesen Weg eingeschlagen und würde ihn auch bis zum Ende gehen.

Sie kam auf eine kleine Lichtung, auf die durch Lücken im Baldachin der Bäume über ihr helles Mondlicht fiel. In einem Monat würden all diese Blätter verschwunden und diese Dickichte nicht halb so beschwerlich sein. Doch nun kam ihr der Lichtfleck wie ein Wunder vor, und sie blinzelte.

Mit diesem Blinzeln veränderte sich die Lichtung. Plötzlich stand eine Frau dort.

»Tante Rasa«, flüsterte Luet. Wieso hat sie gewußt, daß sie hier nach mir suchen muß? Hat die Überseele wieder zu jemandem gesprochen?

Aber dann sah sie, daß es gar nicht Tante Rasa war. Es war Huschidh. Wie hatte sie sich nur so täuschen können?

Nein. Keine Täuschung. Denn nun hatte Huschidh sich erneut verändert. Nun war sie Eiadh, dieses wunderschöne Mädchen aus Huschidhs Klasse, diejenige, in die der arme Nafai so sinnlos verliebt war. Und erneut verwandelte sich die Frau, diesmal in die Schauspielerin Pup, die als junges Mädchen so berühmt gewesen war; sie war eine von Tante Rasas Nichten und war vor einigen Jahren in deren Haus zurückgekehrt, um zu unterrichten. Es hieß sogar, daß die Puppenstadt nach ihr benannt war (obwohl sie diesen Namen schon seit mindestens zehntausend Jahren trug) und daß sie wunderschön gewesen war und viele Herzen gebrochen hatte; doch nun hatte sie die Zwanzig schon längst überschritten, und die Gesichtszüge, die früher in den Frauen den Drang ausgelöst hatten, sie zu bemuttern, und in den Männern, sie zu begehren, waren bei einer Frau nicht mehr so erstaunlich. Dennoch hätte Luet ihr halbes Leben gegeben, wenn sie während der anderen Hälfte so zart und schön wie Pup gewesen wäre.

Warum zeigt die Überseele mir diese Frauen?

Von Pup wandelte sich die Erscheinung zu Schedemei, einer weiteren von Rasas Nichten. Wenn überhaupt, war Shedja jedoch das genaue Gegenteil von Pup und Eiadh. Mit sechsundzwanzig Jahren lebte sie noch immer in Tante Rasas Haus und unterrichtete die älteren Schüler in wissenschaftlichen Fächern, während ihre eigene Reputation als Genetikerin ständig wuchs. Die meisten Nächte über schlief sie tatsächlich in ihrem Labor, viele Straßen entfernt, und nicht in ihrem Zimmer in Rasas Haus, in dem ihre starke, gelassene Gegenwart jedoch spürbar blieb. Schedemei war nicht schön; sie war nicht so häßlich, daß sie einen Betrachter abgestoßen hätte, aber völlig unscheinbar, so daß ihr Gesicht um so unattraktiver wurde, je länger man es betrachtete. Doch ihr Verstand wurde wie ein Magnet von der Wahrheit angezogen: Sobald die Wahrheit einigermaßen deutlich zu fassen war, sprang sie sie an und ließ sie nicht mehr los. Von allen Nichten Rasas war sie diejenige, die Luet am meisten bewunderte; doch Luet wußte, daß sie genausowenig den Verstand hatte, es Schedemei gleichzutun, wie die Schönheit, in Pups Fußstapfen zu treten. Die Überseele hatte sich dazu entschlossen, jemandem ihre Visionen zu schicken, für die die Welt sonst keine Verwendung hatte.

Die Frau war fort. Luet stand allein auf der Lichtung und hatte wieder den Eindruck, gerade wach geworden zu sein.

War dies nur ein Traum, einer jener Art, die sich einstellt, wenn man nicht einmal weiß, daß man schläft?

Hinter der Stelle, wo die Erscheinungen gestanden hatte, machte sie ein Licht aus, das in der Dunkelheit des frühesten Morgens leuchtete. Es mußte Tante Rasas Säulengang sein – in dieser Richtung gab es keine andere Lichtquelle. Vielleicht war die Vision soweit richtig gewesen. Tante Rasa war wach und wartete auf sie.

Sie drängte in das Unterholz vor. Niedrige Zweige schlugen nach ihr, Dornen zerrissen ihr Kleid und ihre Haut, und der unregelmäßige Boden trog sie und ließ sie ausrutschen und stolpern. Doch dieses Licht blieb stets ihr Leuchtfeuer und zog sie an, bis es schließlich verschwand, als sie unter den Rand von Rasas Säulengang trat.

Vor ihr erhob sich eine Mauer aus verwettertem Stein, vom Fuß bis zur Balustrade steil und glatt, ohne den geringsten Halt zu bieten. Und es waren mindestens vier Meter vom Boden bis zum oberen Ende. Selbst, wenn Tante Rasa dort auf sie wartete, gab es keine Möglichkeit hinaufzuklettern, nicht, ohne die Bediensteten um Hilfe zu rufen. Und wenn sie die Ruhe des Hauses sowieso stören mußte, hätte sie gleich die Glockenschnur am Vordereingang ziehen können!

Doch der unebene Waldboden hatte Luet gezwungen, sich Rasas Haus fast genau aus südlicher Richtung zu nähern. Der größte Teil der Vorderseite des Säulengangs war ihr dabei verborgen geblieben. Vielleicht bot das Haus jedoch irgendeinen Zugang vom Säulengang zum Wald. Sicher hatten die Bauherren mehr geplant als nur einen bloßen Blick auf das Spaltental. Und selbst, wenn es keinen direkten Weg gab, mußte es dort irgendeine Stelle geben, die sie vielleicht hinaufklettern konnte.

Als sie sich den Weg um den gekrümmten Felsen bahnte, fand Luet endlich, worauf sie gehofft hatte – eine Stelle, wo der zerklüftete Boden auf den Säulengang hin höher stieg. Nun war die Balustrade nur noch eine Armeslänge außerhalb ihrer Reichweite. Und als sie hinaufgriff, um irgendeinen Halt in den Rissen der Balustrade zu finden, sah sie Tante Rasas Gesicht, das ihr so willkommen war wie der Sonnenaufgang, und ihre Arme, die nach ihr hinabgriffen.