Wäre Luet größer gewesen, hätte Tante Rasa ihr Gewicht wahrscheinlich nicht hinaufziehen können; andererseits jedoch wäre sie dann wohl auch in der Lage gewesen, ohne Hilfe hinaufzuklettern.
Als sie schließlich auf der Bank saß und die Tante sie wie ein kleines Kind in den Arm nahm, stellte Rasa ihr die erwartete Frage: »Was im Namen der Überseele machst du da draußen, anstatt zur Vordertür hineinzukommen wie jede andere Schülerin auch, die sich verspätet hat? Hattest du solche Angst vor einem Tadel, daß du lieber des Nachts im Wald deinen Hals riskiert hast?«
Luet schüttelte den Kopf. »Im Wald sah ich eine Vision«, sagte sie. »Aber ich hätte sie wahrscheinlich sowieso gesehen, so daß es wahrscheinlich meine eigene Torheit war, diesen Weg zu wählen.«
Damit blieb Luet nichts anderes mehr übrig, als Tante Rasa alles zu erzählen, was sie erlebt hatte – die Vision, die sie schon Nafai erzählt hatte und die vor dem Hinterhalt zur Ermordung Wetschiks warnte; die Worte der heiligen Frau in der dunklen Straße; und schließlich die Vision von Rasa und einigen ihrer Nichten.
»Ich kann mir nicht vorstellen, was diese Vision zu bedeuten hat«, sagte Rasa. »Wie soll ich es denn vermuten, wenn die Überseele es nicht einmal dir verraten hat?«
»Ich will sowieso nichts vermuten«, sagte Luet. »Ich will nichts mehr von Visionen wissen oder über Visionen sprechen. Ich weiß nur, daß mir der ganze Körper weh tut und ich ins Bett will.«
»Natürlich willst du das«, sagte Tante Rasa. »Du kannst schlafen und es Wetschik und mir überlassen, darüber nachzudenken, welche Schritte wir nun unternehmen müssen. Es sei denn, er war so dumm, um zum Schluß zu kommen, daß die Ehre es von ihm verlangt, dieses verräterische Treffen beim Kühlhaus einzuhalten.«
Ein schrecklicher Gedanke kam Luet in den Sinn. »Aber was, wenn Nafai ihm nichts erzählt hat?«
Tante Rasa warf ihr einen scharfen Blick zu. »Du glaubst, Nafai würde seinen Vater nicht vor einer Verschwörung gegen sein Leben warnen? Du sprichst von meinem Sohn.«
Was konnte dies schon für Luet bedeuten, die ihre Mutter nie gekannt hatte und deren Vater jeder Mann in der Stadt sein konnte, wobei die brutalsten die aussichtsreichsten Kandidaten waren? Mutter und Sohn – diese Verbindung hatte für sie kein besonderes Gewicht. In einer Welt der treulosen Versprechungen war alles möglich.
Nein, ihre Vorsicht gebot ihr, einfach niemandem zu vertrauen. Sie bezweifelte nicht nur Nafais Treue, sondern auch Tante Rasas Urteil. Offensichtlich funktionierte ihr Verstand nicht klar. Sie erlaubte Tante Rasa, sie die Treppe zu Rasas eigenem Zimmer hinaufzuführen und ’Luet auf das große, weiche Bett der Hausherrin zu legen, wo sie einschlief, bevor sie noch begriff, wo sie überhaupt war.
»Die ganze Nacht fort«, sagte Huschidh.
Luet machte ein Auge auf. Das Licht, das durch das Fenster fiel, war sehr hell, doch in der Luft lag Frost. Es war schon heller Tag, und Luet war erst jetzt aufgewacht.
»Und nicht einmal genug Verstand, um zur Vordertür hineinzukommen.«
»Ich verlasse mich nicht immer auf meinen Verstand«, sagte Luet ruhig.
»Das weiß ich auch schon«, sagte Huschidh. »Du hättest mich mitnehmen sollen.«
»Zwei Personen sind immer unauffälliger als eine.«
»Zu Wetschiks Haus! Ist dir nicht in den Sinn gekommen, daß ich den Hin- und Rückweg kenne?«
»Ich wußte nicht, wohin ich gehen sollte.«
»Allein des Nachts. Alles mögliche hätte passieren können. Und du bindest mich mit diesem törichten Eid, niemandem etwas zu erzählen. Tante Rasa hätte mich fast lebendig gehäutet und mich zum Trocknen auf der Veranda aufgehängt, als ihr in den Sinn kam, daß ich gewußt haben muß, daß du fort warst, und ihr nichts gesagt habe.«
»Sei nicht böse auf mich, Huschidh.«
»Weißt du, daß die ganze Stadt in Aufruhr ist?«
Eine plötzliche Furcht durchbohrte sie. »Nein, Huschidh – sag mir nicht, daß es doch einen Mord gegeben hat!«
»Einen Mord? Wohl kaum. Aber Wetschik ist verschwunden, er und all seine Söhne, und Gaballufix behauptet, Wetschik sei geflohen, weil er, Gaballufix, herausgefunden habe, daß Wetschik ihn und Roptat bei einem geheimen Treffen ermorden wollte, das Wetschik bei seinem Kühlhaus am Musik-Tor arrangiert hatte.«
»Das ist nicht wahr«, sagte Luet.
»Nun, das habe ich auch nicht angenommen«, sagte Huschidh. »Ich habe dir nur erzählt, was Gaballufix’ Leute behaupten. Seine Soldaten haben sich auf den Straßen breitgemacht.«
»Ich bin so müde, Huschidh, und ich kann nichts gegen diese Sache unternehmen.«
»Tante Rasa glaubt, daß du doch etwas dagegen tun kannst«, sagte Huschidh. »Deshalb hat sie mich geschickt, dich zu wecken.«
»Ach ja?«
»Na ja, du kennst sie doch. Sie hat mich zweimal hinaufgeschickt, damit ich mich ›überzeuge, daß die arme Luet noch etwas von der Ruhe bekommt, die sie so dringend braucht‹.«
»Wie aufmerksam von dir, zwischen den Zeilen zu lesen, du allerliebstes Juwel einer großen Schwester.«
»Du kannst später weiterschlafen, meine allerliebste Yagda-Beere einer kleinen Schwester.«
Luet brauchte nur einen Moment, um sich zu waschen und anzuziehen, denn sie war noch so jung, daß Tante Rasa nicht darauf bestand,“ daß sie sich das Haar und die Kleidung richtete und würdevoll aussah, bevor sie sich in der Öffentlichkeit zeigte. Als Luet nach unten kam, war Tante Rasa mit einem Mann im Salon, einem Fremden, doch Rasa stellte ihn sofort vor.
»Das ist Raschgallivak, liebe Luet. Er ist vielleicht der loyalste und vertrauenswürdigste Mann überhaupt; das hat mein geliebter Gefährte zumindest immer gesagt.«
»Ich habe dem Wetschik mein ganzes Leben lang gedient«, sagte Raschgallivak, »und werde ihm weiterhin dienen, bis ich sterbe. Ich gehöre vielleicht keinem der großen Häuser an, doch ich bin ein echter Palwaschantu.«
Tante Rasa nickte. Luet fragte sich, ob sie diesem Mann mit Vertrauen oder Ironie begegnen sollte; doch Rasa schien ihm zu vertrauen, und so tat Luet es ihr zögernd gleich.
»Wie ich gehört habe, hast du die Warnung überbracht«, sagte Raschgallivak.
Luet sah Tante Rasa überrascht an. »Er wird es niemandem verraten«, sagte Tante Rasa. »Ich habe seinen Eid. Wir wollen nicht, daß du in diese Politik der Morde verwickelt wirst, meine Liebe. Doch Rasch mußte es wissen, damit er nicht glaubt, mein Wetschik habe den Verstand verloren. Verstehst du, Wetschik hat ihm genaue Anweisungen zurückgelassen, etwas ziemlich Verrücktes zu tun.«
»Das Gut zu schließen«, sagte Raschgallivak. »Alle bis auf die nötigsten Angestellten zu entlassen, alle Packtiere zu verkaufen und die Herden zu veräußern. Ich soll nur das Land behalten, die Gebäude und das Vermögen, das ich auf Sperrkonten legen soll. Sehr verdächtig, falls mein Herr unschuldig ist. Würden zumindest einige behaupten. Oder besser, behaupten sie schon.«
»Wetschiks Abwesenheit war erst eine halbe Stunde bekannt, als Gaballufix in Wetschiks Haus erschien und als Kopf des Klans Palwaschantu verlangte, man möge ihm den gesamten Besitz der Familie Wetschik überstellen. Er hatte die Dreistigkeit, meinen Gefährten mit seinem Geburtsnamen zu bezeichnen, als habe er das Recht auf den Familientitel verwirkt.«
»Falls mein Herr wirklich Basilika für immer verlassen hat«, sagte Raschgallivak, »sind Gaballufix’ Forderungen rechtmäßig. Der Besitz kann nur an einen Palwaschantu verkauft oder verschenkt werden.«
»Und ich versuche, Raschgallivak zu überzeugen, daß deine Warnung vor einer unmittelbar drohenden Gefahr Wetschik zur Flucht veranlaßt hat und nicht irgendein Plan, die Stadt zu verlassen und das Familienvermögen mitzunehmen.«
Luet begriff nun, wo in diesem Gespräch ihre Pflicht lag. »Ich habe mit Nafai gesprochen«, sagte sie zu Raschgallivak. »Ich habe ihn davor gewarnt, daß Gaballufix beabsichtigt, Wetschik und Roptat zu ermorden – zumindest hat mein Traum eindeutig darauf hingewiesen.«