»Ich sollte es dir nicht sagen, aber ich werde es tun – weil du die Wahrheit kennen mußt, um alles zu verstehen.«
Ich bin noch ein Kind, dachte Luet. Du würdest keiner anderen Dreizehnjährigen darüber etwas erzählen. Du würdest es nicht einmal deiner eigenen Tochter erzählen. Aber ich, ich bin eine Seherin, und daher wird mir alles geöffnet, und es ist mir unmöglich, noch eine unschuldige Freude an den Dingen zu empfinden.
»Ich habe den Vertrag nicht erneuert, weil ich erfuhr …«
Luet bereitete sich innerlich auf eine schäbige Enthüllung vor, doch es kam nicht soweit.
»Nein, Kind, nein. Nur, weil die Überseele zu dir spricht, darf ich dich nicht mit meinen Geheimnissen belasten. Geh und schlafe. Vergiß meine Fragen, wenn du kannst. Ich kenne meinen Wetschik. Und ich kenne auch Gaballufix. Ich kenne sie beide, bis in die tiefsten Schatten ihrer Seele. Um meiner Töchter willen habe ich versucht, etwas Unmögliches zu finden, wie zum Beispiel Gabjas Unschuld.« Sie kicherte. »Ich bin wie ein Kind, das sich immer Unmögliches wünscht. Wie deine Vision in den Wäldern, bevor ich dich auf den Säulengang zog. Du hast all meine brillantesten Nichten gesehen, wie ein Namensaufruf meiner Urteilskraft.«
Brillant? Schedemei und Huschidh, ja, aber Pup und Eiadh, diese Frauen der Schminke und des Flitters?
»Es hat mich zu gefreut zu erfahren, daß die Überseele sie kennt und in der Vision, die sie geschickt hat, mit mir und dir verbunden hat. Aber wo waren meine Töchter, Lutja? Ich wünschte, du hättest meine Sevja und meine Koja gesehen. Ich wünsche es mir wirklich – ist das dumm von mir?«
Ja. »Nein.«
»Du solltest dich im Lügen üben«, sagte Tante Rasa, »damit du es besser beherrscht. Nun geh zu Bett, meine liebe Seherin.«
Luet gehorchte, schlief aber kaum.
In den folgenden Tagen nahmen die Unruhen in der Stadt zu, bis es fast unmöglich war, den Unterricht in Tante Rasas Haus fortzusetzen. Nicht nur deshalb, weil sie sich ständig Sorgen machten, sondern hauptsächlich, weil so viele Kinder nicht mehr kamen, hauptsächlich aus den jüngeren Klassen. Nur wenige Kinder wurden zu Hause gehalten, weil ihre Eltern Rasas politischen Standpunkt mißbilligten. Aus jedem unterrichtenden Haushalt, ob nun groß oder klein, wurden Kinder genommen und in die Familien zurückgeholt; viele Familien hatten sogar ihre Häuser zugesperrt und hatten Ferien unbekannter Dauer an unbekannten Orten angetreten, an denen sie wahrscheinlich ausharren wollten, bis der schreckliche Tag, der kommen würde, vorübergezogen war.
Wie sehr beneidete Luet doch Nafai und Issib, die sich in einem fernen Land in Sicherheit befanden und nicht in ständiger Angst in dieser Stadt leben mußten, die die Dichter so lange den ›Berg des Friedens‹ genannt hatten.
Während der Antrag, Gaballufix zu verbannen, im Rat immer mehr Unterstützung gewann, setzte Gaballufix seine Soldaten auf den Straßen immer kühner ein. Zum einen gab es immer mehr Soldaten, und zum anderen griffen sie nicht mehr auf den Vorwand zurück, die Bürgerschaft vor den Tolschocks schützen zu wollen. Die Soldaten sprachen an, wen sie wollten, schickten Frauen und Kinder mit Tränen in den Augen nach Hause und verprügelten Männer, die sich ihnen widersetzten.
»Ist er ein Narr?« fragte Huschidh eines Tages Luet. »Weiß er denn nicht, daß alles, was seine Soldaten tun, seinen Feinden nur noch mehr Gründe gibt, ihn zu verbannen?«
»Er muß es wissen«, sagte Luet, »also muß er es darauf anlegen, verbannt zu werden.«
»Dann soll der Tag schnell kommen«, sagte Huschidh, »und hoffentlich werden wir ihn endgültig los.«
Luet wartete auf eine Vision von der Überseele, auf irgendeine Warnung, die sie dem Rat mitteilen sollte. Statt dessen bestand die einzige Vision, die sie erhielt, aus einem Wort des Trostes für eine alte Frau im Bezirk Olivenhain, der sie versicherte, daß ihr lange vermißter Sohn noch lebte und auf einem Schiff zurückkehrte, das bald im Hafen einlaufen würde. Luet wußte nicht, ob sie Trost an der Tatsache empfinden sollte, daß sich die Überseele noch immer Zeit nahm, aus tiefer Seele kommende Gebete alter Frauen mit gebrochenen Herzen zu beantworten, oder Zorn darüber, daß die Überseele noch immer Zeit mit solchen Dingen verschwendete, anstatt die Stadt zu heilen, bevor sie sich selbst zerstörte.
Dann kam endlich der gefürchtetste Augenblick. Die Türglocke schlug an, starke Fäuste trommelten gegen die Tür, und als die Tür aufgerissen wurde, stand ein Dutzend Soldaten dort. Die Dienerin, die die Tür geöffnet hatte, schrie auf, nicht nur, weil sie sich in gefährlichen Zeiten Bewaffneten gegenüber sah. Luet zählte zu den ersten, die der entsetzten Dienerin zu Hilfe eilten, und sah, was ihr solche Angst eingejagt hatte. Alle Soldaten trugen identische Uniformen mit identischen Panzerungen und Helmen und elektrischen Klingen, wie man es erwarten konnte – doch unter diesen Helmen befanden sich auch identische Gesichter.
Rasas älteste Nichte, Schedemei, die Genetikerin, sprach zu den Soldaten. »Ihr habt hier von Rechts wegen nichts zu suchen«, sagte sie. »Niemand will euch hier. Geht.«
»Ich werde mit der Herrin dieses Haushalts sprechen«, sagte der Soldat, der vor den anderen stand, »oder ich werde niemals gehen.«
»Sie hat nichts mit dir zu besprechen, habe ich gesagt.«
Doch dann stand Tante Rasa dort, und ihre Stimme war laut und klar. »Schließe die Tür vor diesen gedungenen Verbrechern«, sagte sie.
Der vorn stehende Soldat lachte und griff mit der Hand an seine Hüfte. Augenblicklich verwandelte er sich vor ihren Augen von einem jungen Söldner mit todernstem Gesicht in einen Mann mittleren Alters mit einem grauen Bart und stechenden, hellen Augen, stämmig, aber nicht weichbäuchig, nicht mit einer Uniform, sondern mit elegantem Zivil bekleidet. Ein Mann mit Stil und Macht, der die ganze Lage für überaus amüsant hielt.
»Gabja«, sagte Tante Rasa.
»Wie gefallen dir meine neuen Spielzeuge?« fragte Gaballufix und betrat das Haus. Frauen und Mädchen und Jungen wichen zur Seite, um ihm Platz zu machen. »Eine alte Theaterausrüstung, seit Jahrhunderten außer Mode, aber sie befand sich im Museum in einer Stasisblase, und die Herstellungsmaschinen konnten›sich noch erinnern, wie man sie kopiert. Holokostüme, hießen sie damals. All meine Soldaten haben sie jetzt. Ich gestehe ein, damit kann man sie manchmal nur schwer auseinanderhalten, aber andererseits bin ich im Besitz des Hauptschalters, mit dem ich alle abstellen kann, wenn ich will.«
»Verlasse mein Haus«, sagte Rasa.
»Aber ich will nicht gehen«, sagte Gaballufix. »Ich will mit dir sprechen.«
»Ohne sie kannst du jederzeit mit mir sprechen. Das weißt du, Gabja.«
»Das habe ich einmal gewußt«, sagte Gaballufix. »Um die Wahrheit zu sagen, o edelste meiner Gefährtinnen, ich wußte, daß meine Soldaten dich nicht beeindrucken würden – ich wollte dir nur die neueste Mode zeigen. Bald werden die besten Männer sie tragen.«
»Nur in ihren Särgen«, sagte Tante Rasa.
»Willst du dieses Gespräch vor den Kindern führen, oder sollen wir uns auf deinen geheiligten Säulengang zurückziehen?«
»Deine Soldaten warten vor der Tür. Vor der verschlossenen Tür.«
»Was immer du verlangst, o Mutter meines Duetts der süßen Singvögel. Obwohl deine Tür mit all ihren Schlössern kein Hindernis wäre, wenn ich sie im Haus haben wollte.«
»Menschen, die sich ihrer Macht sicher sind, müssen nicht damit prahlen«, sagte Tante Rasa. Sie ging den Korridor voraus, während Schedemei die Tür vor den Gesichtern der Soldaten schloß und verriegelte.