Das überwältigende Gefühl der Anwesenheit der Überseele in seinem Geist war plötzlich verschwunden; es war, als wäre plötzlich ein großes Feuer in ihm erloschen, ein großer, strömender Fluß des Lebens in ihm abrupt ausgetrocknet. Nafai saß da auf dem Felsen neben dem Fluß, kam sich verbraucht, erschöpft, leer vor, während der letzte, verzweifelte Gedanke noch in seinem Herzen verweilte: Falls er sich überhaupt verwirklichen läßt.
Sein Mund war trocken. Er kniete neben dem Wasser nieder, tauchte die Hände hinein, machte sie hohl und schöpfte Wasser zu seinem Mund. Es genügte ihm nicht. Er sprang in den Fluß, nicht ehrfurchtsvoll, um zu beten, sondern mit verzweifeltem Durst; er begrub den Kopf unter dem Wasser und trank mit tiefen Zügen, während er die Wange gegen den kalten Stein des Flußbetts drückte und das Wasser über seinen Rücken, seine Schenkel floß. Er trank und trank, hob den Kopf und die Schultern über das Wasser, rang nach Atem und brach wieder in das Wasser zusammen, um so gierig wie zuvor zu trinken.
Es war doch eine Art Gebet, begriff er, als er wieder an die Oberfläche kam und vor Kälte erzitterte, als das Wasser auf seiner Haut in der Brise des dunklen Morgens verdunstete.
Ich bin bei dir, sagte er zur Überseele. Ich werde tun, was immer du verlangst, denn ich ersehne, daß du deinen Zweck hier erfüllst. Ich werde alles tun, was in meiner Kraft steht, um uns alle auf die Rückkehr zur Erde vorzubereiten.
Als er zu seinem Zelt zurückkehrte, fror er bis auf die Knochen. Er war zwar nicht mehr naß, aber auch nicht trocken, und er lag lange zitternd auf seine Matte, ließ sich von der Luft im Zelt und der Hitze von Issibs Körper wärmen, bis er endlich wieder einschlafen konnte.
Am Morgen gab es viel zu tun; so müde, wie er war, konnte Nafai doch nicht länger schlafen, sondern bemühte sich, seine Aufgaben zu erfüllen, war dabei allerdings so langsam und unbeholfen, daß Elemak und sogar Vater ihn wütend anfuhren. Paß doch auf! Benutze deinen Verstand! Erst in der Hitze des Nachtmittags, als sie das Schläfchen hielten, von dem die Wüstenbewohner wußten, daß es genauso lebenswichtig wie Wasser war, bekam Nafai die Gelegenheit, sich von seiner nächtlichen Vision zu erholen. Doch dann konnte er einfach nicht schlafen. Er lag auf seiner Matte und erzählte Issib alles, was er gesehen und von der Überseele erfahren hatte. Als er fertig war, flössen Tränen Issibs Gesicht hinab, und langsam und mit großer Anstrengung streckte er eine Hand aus und ergriff die Nafais. »Ich habe gewußt, daß irgendein Sinn dahinterstecken mußte«, flüsterte Issib. »Jetzt ergibt alles Sinn für mich. Alles paßt zusammen. Wie glücklich du warst, die Stimme der Überseele zu hören. Und ich glaube, du hast sie noch deutlicher als Vater gehört. So deutlich wie Luet, glaube ich. Du bist wie Luet.«
Das war Nafai etwas unangenehm, zumindest einen Augenblick lang. Er hatte sich in Gedanken – und manchmal auch mit Worten – über Luet geärgert oder sie verspottet. Das verächtliche Wort Hexe war so leicht über seine Lippen gekommen. War es das, was sie spürte, wenn die Überseele ihr eine Vision schickte? Wie konnte ich sie deshalb nur verspotten?
Er schlief und wachte auf, und sie beendeten ihre Arbeit: ein fester Pferch für die Kamele, aus aufeinandergestapelten Steinen erbaut, die von einem Gravitationsfeld an Ort und Stelle gehalten wurden, das seine Energie aus Solarkollektoren bezog; Kühlschuppen für die getrockneten Vorräte, die sie mitgenommen hatten und die mindestens ein Jahr lang reichen würden; Abwehrer und Sensoren, die sie kreisförmig um das Tal aufstellten, so daß niemand in Sichtweite kommen konnte, ohne daß sie ihn schon vorher bemerkt hatten. Ein Lagerfeuer errichteten sie natürlich nicht – in der Wüste war Holz zu kostbar, um es zu verbrennen. Doch sie gingen sogar noch weiter; sie würden auch nicht kochen, da man sonst eine unerklärliche Wärmequelle feststellen könnte. Ihre eigene Körperwärme war die einzige Infrarotstrahlung, die sie abzugeben wagten, und die elektromagnetischen Störungen, die von den Abwehrern und Sensoren erzeugt wurden, vom Gravitationsfeld, den Kühlaggregaten, Sonnenzellen und Issibs Stuhl, waren nicht stark genug, als daß man sie außerhalb des Tals hätte wahrnehmen können, außer mit viel empfindlicheren Instrumenten, als umherziehende Plünderer oder die Karawanen sie wohl mit sich führen würden.
Beim Abendessen stellte Nafai fest, wie überflüssig das alles war. »Wir sind im Auftrag der Überseele hier«, sagte er. »Die Überseele hat all die Jahre lang Menschen von diesem Tal ferngehalten und es für uns vorbereitet – sie hätte sowieso alle Leute ferngehalten.«
Elemak lachte, und Mebbekew grölte hysterisch. »Nun, Theologe Nafai«, sagte Meb, »wenn die Überseele in der Lage ist, unsere Sicherheit zu garantieren, verstehe ich nicht, wieso sie uns hierher in diese höllische Landschaft schickt, anstatt uns sicher zu Hause zu lassen.«
»Wieso bist du überhaupt so ein Experte für die Überseele, Nafai?« fragte Elemak. »Deine Mutter hat dich offensichtlich zu viel Zeit mit Hexen verbringen lassen.«
Diesmal gelang es Nafai, seine wütenden Antworten im Zaum zu halten. Er begriff, daß es sinnlos war, mit ihnen zu streiten. Doch das hatte er auch schon unzählige Male zuvor begriffen und war trotzdem nicht imstande gewesen, auf eine Antwort zu verzichten. Der Unterschied, erkannte Nafai, lag darin, daß er jetzt nicht mehr nur Nafai war, der jüngste der Söhne des Wetschik. Jetzt war er der Freund und Verbündete der Überseele. Er hatte Wichtigeres zu tun, als mit Elja und Meb zu streiten.
»Nafai«, sagte Vater, »deine Argumentation ist fehlerhaft.
Warum sollten wir der Überseele zumuten, auf uns aufzupassen, wenn wir doch sehr wohl allein dazu imstande sind?«
»Natürlich, Vater«, sagte Nafai. Seine Bemerkung war töricht gewesen. Sie durften die Überseele nicht zusätzlich belasten, sondern mußten versuchen, sie zu entlasten. »Es tut mir leid.«
Elemak lächelte kurz, und Mebbekew verdrehte die Augen und lachte erneut. »Hört sie euch an«, sagte er. »Angeblich vernünftige Männer sprechen darüber, ob sich die Überseele nun um unsere Kamele kümmern sollte oder nicht.«
»Die Überseele hat uns hierher geführt«, sagte Vater ziemlich kalt.
»Du wolltest, daß wir gehen«, sagte Mebbekew, »und Elemak hat uns geführt.«
»Die Überseele hat mir zum Aufbruch geraten«, sagte Vater, »und die Überseele hat uns zu diesem gut bewässerten Tal gebracht.«
»Natürlich, wie dumm von mir«, sagte Meb. »Ich dachte, ein Geier würde am Himmel kreisen, doch statt dessen war es die Überseele, die uns geführt hat.«
»Nur ein Tor scherzt über etwas, das er nicht versteht«, sagte Vater.
»Und nur ein alter Narr nennt vernünftige Männer Toren«, sagte Mebbekew. »Du bist derjenige, der Hinterhalte und Verschwörungen in den Schatten sieht, Vater.«
»Halte den Mund«, sagte Elemak.
»Von dir lasse ich mir nicht den Mund verbieten.«
»Halte den Mund«, sagte Elemak erneut. Er drehte sich langsam um und begegnete Mebbekews wütendem Blick. Obwohl Eljas Augen fast geschlossen waren, als wäre er kaum wach, sah Nafai, daß sie wütend funkelten, als er Meb mit Blicken niederzwang.
»Na schön«, sagte Mebbekew und widmete sich wieder seinem Abendessen, »dann bin ich wohl der einzige, der keinen Spaß an diesem Zeltausflug hat.«
»Das ist kein Zeltausflug«, sagte Vater. »Es ist ein Exil.«
»Ich verstehe nur nicht«, sagte Mebbekew, »wieso ich ins Exil muß.«
»Du bist mein Sohn«, sagte Vater. »Keiner von uns war dort mehr sicher.«
»Komm schon«, sagte Meb, »uns drohte keine Gefahr.«
»Hör auf damit«, sagte Elemak. Erneut begegnete er Mebbekews Blick.
Nun begriff Nafai, worauf es hinauslief. Elemak paßte es nicht, daß Mebbekew darüber sprach, ob es wirklich eine Verschwörung gegen Vater oder einen Grund dafür gegeben hatte, daß die ganze Familie in die Wüste fliehen mußte. Es war ein empfindliches Thema, und Nafai vermutete, daß beide mehr darüber wußten, als sie zugeben wollten. Sollten sie wirklich ein dunkles Geheimnis haben, würde Elemak es wohl verbergen wollen, indem er versuchte, jedes Gespräch davon abzulenken, während es Mebbekew viel ähnlicher sah, sich hinter beiläufigen Verneinungen und spöttischen Lügen zu verschanzen.