»Ihr beide wißt, daß Vaters Leben in Basilika in Gefahr war«, sagte Nafai.
Die Weise, wie sie ihn ansahen, verriet ihm, daß er mit seiner Vermutung richtig lag. Wären sie unschuldig, hätten sie seiner Bemerkung nur entnehmen können, er erwarte, daß sie an Vaters Vision glaubten. Statt dessen faßten sie sie viel härter auf.
»Wieso glaubst du zu wissen, was andere Leute wissen?« fragte Elemak.
»Wenn du so sicher bist, daß Vaters Leben in Gefahr war«, sagte Meb, »bedeutet das vielleicht, daß du an der Verschwörung mitgewirkt hast.«
Erneut waren ihre Reaktionen typisch: Elemak verteidigte sich gegen Nafais Anschuldigung, indem er im Prinzip sagte: Du kannst nichts beweisen, während Mebbekew sich verteidigte, indem er den Spieß umdrehte und Nafai beschuldigte.
Jetzt sollen sie merken, was sie gestanden haben, dachte Nafai. »Welche Verschwörung?« fragte er. »Wovon sprichst du?«
Mebbekew begriff augenblicklich, wieviel er enthüllt hatte. »Ich nahm nur an … du hättest unterstellt, daß wir irgend etwas wissen oder so.«
»Falls ihr von einer Verschwörung gegen Vaters Leben wüßtet«, sagte Nafai, »hättet ihr es Vater doch gesagt, falls ihr noch einen Funken Anstand im Leib habt. Und ihr würdet doch bestimmt nicht hier sitzen und darüber jammern, daß wir die Stadt eigentlich nicht hätten verlassen müssen.«
»Ich jammere nicht, kleiner Junge«, sagte Mebbekew. Sein Ärger hatte jetzt jede Feinsinnigkeit verloren. Er wußte nicht genau, wie er Nafais Worte deuten sollte – und genau deshalb hatte Nafai ja auf diese Art gesprochen. Soll Meb sich doch fragen, ob Nafai etwas weiß oder nicht.
»Halte den Mund, Meb«, sagte Elemak. »Und du auch, Nafai. Ist es nicht schon schlimm genug, daß wir hier im Exil sitzen, ohne daß ihr euch noch gegenseitig an die Kehle geht?«
Elja der Friedensstifter. Nafai wollte lachen. Andererseits jedoch – vielleicht war es wirklich wahr. Vielleicht hatte Elemak wirklich nichts davon gewußt – vielleicht hatte Gaballufix ihn in dieser Hinsicht niemals ins Vertrauen gezogen. Natürlich hatte er das nicht, begriff Nafai. Elja mochte Gaballufix’ Halbbruder sein, aber er war noch immer Wetschiks Sohn und Erbe. Gaballufix würde niemals absolut sicher sein, auf wessen Seite Elemak wirklich stand. Er konnte Elja als Vermittler benutzen, als Boten oder Informanten – aber er konnte ihm niemals wirkliches Wissen anvertrauen.
Das würde auch Elemaks Versuche erklären, Meb zum Schweigen zu bringen; er wollte seine Verbindung zu Gaballufix verbergen, doch keine Mordverschwörung geheimhalten. Wie konnte Nafai nur davon ausgegangen sein? Außerdem … wenn es zum Plan der Überseele gehörte, daß sie sich hier in der Wüste aufhielten, bedeutete dies nicht, daß Elemak und Mebbekew Teil des Plans waren? Hier bringe ich ihnen Argwohn entgegen und gebe genau jenem Groll Nahrung, der Basilika vernichten wird. Wie kann ich behaupten, auf der Seite der Überseele zu stehen, wenn ich mich benehme, als würde ich nicht einmal meinem eigenen Bruder vertrauen?
»Es tut mir leid«, sagte Nafai. »Ich hätte das nicht sagen sollen.«
Nun sahen ihn alle wirklich überrascht an. Nafai brauchte einen Augenblick lang, bis er begriff, daß er sich zum ersten Mal in seinem Leben tatsächlich für eine häßliche Bemerkung gegenüber seinen Brüdern entschuldigt hatte, ohne zuerst in den Schwitzkasten genommen und zur Unterwerfung gezwungen worden zu sein.
»Schon in Ordnung«, sagte Mebbekew. Seine Stimme klang verwundert – doch seine Augen leuchteten vor triumphierender Verachtung.
Du glaubst, meine Entschuldigung bedeutet, daß ich schwach bin, dachte Nafai bei sich. Aber das stimmt nicht. Sie bedeutet, daß ich allmählich lerne, wie man stark ist.
Dann erzählte Nafai seinem Vater und Elemak und Mebbekew etwas von den Visionen, die die Überseele ihm in der vergangenen Nacht gezeigt hatte. Er kam mit seinem Bericht jedoch nicht weit.
»Ich bin müde«, sagte Elemak. »Ich habe keine Zeit für so etwas.«
Nafai sah ihn erstaunt an. Er hatte keine Zeit, um etwas über den Plan der Überseele zu erfahren? Keine Zeit, um von der Hoffnung der Menschheit zu hören, zur Erde zurückzukehren?
Mebbekew gähnte ebenfalls nachdrücklich.
»Dir meint, es ist euch einfach gleichgültig?« fragte Issib.
Elemak lächelte seinen verkrüppelten Bruder an. »Du bist zu vertrauensvoll, Issja«, sagte er. »Begreifst du nicht, was hier geschieht? Nafai kann es nicht ertragen, nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Er kann sich nicht beweisen, indem er nützlich oder auch nur entfernt fähig ist, und deshalb hat er Visionen. Bevor wir es richtig mitbekommen haben, wird uns Njef die Befehle der Überseele erteilen und herumkommandieren.«
»Das stimmt nicht«, sagte Nafai. »Ich habe diese Visionen gehabt.«
»Genau«, sagte Mebbekew. »Auch ich hatte letzte Nacht Visionen. Visionen von Mädchen, die du nie haben wirst, weil es dir an den Geschlechtsdrüsen dafür fehlt, Nafai. Ich werde an deine Träume von der Überseele glauben, sobald du bereit bist, eins der Mädchen aus meinen Träumen zu heiraten. Ich überlasse dir sogar eins der schönsten.«
Elemak lachte, und sogar Vater lächelte leicht. Aber Mebbekews Sticheleien erfüllten Nafai nur mit Zorn. »Ich sage euch die Wahrheit«, beharrte er. »Ich sage euch, was die Überseele zu bewerkstelligen versucht.«
»Ich denke lieber darüber nach, was die Mädchen in meinen Träumen zu bewerkstelligen versucht haben«, sagte Meb.
»Schluß mit diesen Vulgaritäten!« sagte Vater. Doch er kicherte. Das war der grausamste Schlag – daß Vater offensichtlich Elemak glaubte, Nafai habe sich seine Visionen ausgedacht.
Als Elemak und Mebbekew also aufstanden, um nach den Tieren zu sehen, blieb Nafai bei Vater und Issib sitzen.
»Warum gehst du nicht mit?« sagte Vater. »Issib kann bei solchen Aufgaben nicht helfen, da seine Flossen hier nicht funktionieren. Aber du kannst es.«
»Vater«, sagte Nafai, »ich dachte, du würdest mir glauben.«
»Ich glaube dir«, sagte Vater. »Ich glaube, daß du ehrlich die Pläne der Überseele unterstützen willst. Ich halte dich dafür in Ehren, und vielleicht kommen ja wirklich einige deiner Träume von der Überseele. Aber versuche nicht, deinen älteren Brüdern darüber zu erzählen. Sie werden es dir nicht abkaufen.« Er lächelte verbittert. »Sie kaufen es ja sogar mir kaum ab.«
»Ich glaube Nafai«, sagte Issib. »Und es waren auch keine Träume. Er war wach und saß beim Fluß. Ich sah, daß er naß und frierend zum Zelt zurückkam.«
Nafai war niemals jemandem so dankbar gewesen wie in diesem Augenblick Issib, der seine Geschichte bestätigte. Er hätte es auch nicht tun müssen. Nafai hatte halbwegs damit gerechnet, daß Issib ihm auch nicht mehr glaubte, da Vater ihn nicht ernst nahm.
»Ich glaube dir ja«, sagte Vater. »Aber die Dinge, die du erzählt hast, waren viel genauer als sonst etwas, was die Überseele uns in Visionen mitteilt. Also sage ich, daß wahrscheinlich ein Kern der Wahrheit in dem steckt, was du erzählst. Aber das meiste davon muß von deiner Phantasie gekommen sein, und ich für meinen Teil werde nicht versuchen, es genauer herauszufinden, jedenfalls heute abend nicht.«
»Ich habe dir geglaubt«, sagte Nafai.
»Zuerst auch nicht«, sagte Vater. »Und wir schachern hier nicht damit herum, ob wir uns nun glauben oder nicht. Wir glauben und vertrauen jemandem, wenn er es sich verdient hat. Erwarte nicht von mir, daß ich dir schneller glaube, als du mir geglaubt hast.«